Zeitzeugin Dorli Neale ist im 93. Lebensjahr in London gestorben

„Wenn ich im Fernsehen Berge oder Schnee gesehen habe, dann hatte ich Heimweh ...“

Dorli Neale ist eine der ZeitzeugInnen, die bereit waren, ihre Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vertreibungspolitik für die Erstellung von Unterrichtsmaterialien zur Verfügung zu stellen. Ihre Erinnerungsberichte wurden in verschiedenen Lernmaterialien von _erinnern.at_ für den österreichischen Schulunterricht aufbereitet. Ihre Geschichte findet sich auf der DVD „Das Vermächtnis“, in der mobilen Ausstellung „Darüber sprechen“ sowie demnächst auf der Lernhomepage „Alte Heimat /Schnitt/ Neue Heimat“.

Dorli Neale wird als jüngste Tochter von Friedrich und Rosa Pasch am 15. November 1923 in Innsbruck geboren. Sie hat zwei ältere Schwestern, Ilse und Trude. Die Familie ist tschechischer Herkunft und gehört der jüdischen Gemeinde an. Man hält die jüdischen Feiertage und führt ansonsten ein Leben, das sich kaum von dem der übrigen Innsbrucker BürgerInnen unterscheidet. Dorli Neale berichtet in den Interviews von einer glücklichen Kindheit in Innsbruck: von der großen Wohnung in der Salurnerstraße, vom Schifahren im Winter und den Bergtouren im Sommer. Dorlis Vater besitzt ein gut gehendes Modegeschäft in der Maria-Theresien-Straße.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten verändert sich das Leben der Familie Pasch grundlegend. Dorli muss das Gymnasium in der Sillgasse in der vierten Klasse verlassen, weil jüdischen Kindern und Jugendlichen der Schulbesuch von den Nazis verboten wird. Die Schaufenster des elterlichen Geschäfts werden mit „Jude“ beschmiert. In der Nacht der blutigen Ausschreitungen vom 9. auf den 10. November 1938 verwüsten die Nationalsozialisten die Wohnung der Eltern und misshandeln die damals 15-jährige Dorli. Die Gestapo nimmt den Vater zwölf Tage lang in Haft, er wird brutal geschlagen.

Ende November 1938 muss die Familie Pasch Innsbruck verlassen und zieht zu einer Verwandten nach Wien. Im Dezember 1938 gelangt Dorli Neale mit einem Kindertransport nach England. Die Bilder von der Abfahrt von Wien lassen sie auch im Alter nicht los: „Am Bahnhof, das werde ich nie vergessen: (…) Da war eine Linie, da sind alle Eltern gestanden und wir waren im Zug. Ich war glücklich, ich habe meine Eltern wieder gesehen. Aber da waren Hunderte, die ihre Eltern und Familien nie wieder gesehen haben.“

Auch die übrigen Familienmitglieder können 1939 nach England fliehen. Der Neuanfang fällt vor allem dem Vater schwer, er stirbt bereits 1944. In Innsbruck war er bis zum März 1938 ein angesehener Kaufmann, in London musste er mit dem sozialen Abstieg fertig werden. Dorlis Mutter hält die Familie mit ihren Backkünsten über Wasser: sie beliefert mit Vanillekipferl und Apfelstrudel verschiedene Londoner Feinkostläden.

Dorli Neale muss ihren Berufswunsch, Ärztin zu werden, aufgeben: dazu fehlt das Geld. Sie wird Modistin und arbeitet während des Krieges in einer Fabrik für Suchscheinwerfer. 1947 heiratet sie Ernst Nagl, der aus Wien stammt und sich in England Neale nennt. Sie eröffnet mit ihrem Mann eine Bar und wird schließlich die Leiterin eines Altersheimes für deutsche und österreichische Flüchtlinge. Sie bekommt zwei Söhne und wird fünffache Großmutter.

Über ihre Erfahrungen in der ehemaligen Heimatstadt hat sie nicht geschwiegen: sie erzählte davon ihren Kindern und gab in 1990er Jahren Mitarbeitern der Shoa Foundation ein Interview. 2008 wurde ihre Geschichte, wie die von 12 weiteren österreichischen Überlebenden des Holocausts, in der DVD „Das Vermächtnis“ von einem Projektteam des Vereins _erinnern.at_ für den Unterricht aufbereitet.

2009 kommt sie zur Präsentation der DVD nach Innsbruck. Im Landesschulrat von Tirol spricht sie vor LehrerInnen über ihre Geschichte, besucht ihre alte Schule in der Sillgasse und freut sich über das Interesse der SchülerInnen an ihren Erinnerungen. Schließlich beteiligt sie sich 2010 als eine von 10 ZeitzeugInnen am Projekt „Alte Heimat /Schnitt/ Neue Heimat“. Ein Team unter der Leitung von Horst Schreiber interviewte in England und Israel Menschen, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft als Kinder oder Jugendliche vor den Nazis fliehen mussten. Sie lebten bis 1938 in Innsbruck oder hatten über ihre Eltern und Großeltern enge Verbindungen zur Stadt. Auf der Basis von Video-Interviews entstanden künstlerische Produkte, wie ein Kurzfilm, literarische Porträts, ein Theaterstück sowie historisch-didaktische Lernmaterialien in Form eines Buches und einer Homepage. Zur Aufführung des Stücks kam Dorli Neale im Mai 2011 wieder in ihre alte Heimatstadt. 2012 erhält sie das Ehrenzeichen der Stadt Innsbruck.

Die Erfahrungen von Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung haben ihr Verhältnis zu Innsbruck lange beeinträchtigt. Befragt nach ihrer Beziehung zur alten Heimat, sagt Dorli Neale: „Wenn ich im Fernsehen Berge oder Schnee gesehen habe, dann hatte ich Heimweh. 1963 kam ich erstmals wieder zurück nach Österreich, es war schrecklich, alle Leute, die mir begegnet sind, vor allem ältere, habe ich angeschaut und mir gedacht: „Was habt’s ihr gemacht während dem Krieg?“ (…) Heute habe ich keine solchen Gefühle mehr, es ist eine andere Welt, eine andere Jugend. Von Innsbruck wünsche ich mir – vom „Hörtnagl“, die Debreziner.“

Im August 2016 ist Dorli Neale im 93. Lebensjahr in London, ihrer neuen Heimat, gestorben.

Ein Nachruf von Irmgard Bibermann

 

Videointerviews mit Dorli Neale
(zum Abspielen auf die Bilder klicken)

Dorli Neale "das Vermächtnis"

Dorli Neale im Gespräch mit Irmgard Bibermann und Horst Schreiber