Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust in einer von Migration geprägten Gesellschaft

Im Jahresbericht 2019 stellt Victoria Kumar, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei _erinnern.at_, Überlegungen zur gelingenden Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust in einer von Migration geprägten Gesellschaft an.

Gegenwärtige gesellschaftliche und pädagogische Herausforderungen

 

Im deutschsprachigen pädagogischen Diskurs über die Thematisierung und Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust sind die Begriffe „Migrationsgesellschaft“ und „globalisiertes Klassenzimmer“ in den letzten Jahren zentral geworden. Für beide ist längst eine Hybridität charakteristisch, die imaginierte Bilder einer homogenen Gemeinschaft korrigiert. Zu den mannigfaltigen Folgen einer von Flucht und Migration geprägten Gesellschaft zählen sich verändernde nationale Gedächtnisdiskurse – wie die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, die ein zentraler Bestandteil des österreichischen und europäischen Geschichtsbewusstseins ist. Eine bislang mehrheitlich hegemoniale Geschichtsschreibung wird durch unterschiedliche AkteurInnen der Migrationsgesellschaft und deren vielfältige Erfahrungen, Perspektiven und Tradierungen herausgefordert, ergänzt und infrage gestellt.

Aushandlungsprozesse über Geschichtsbilder und über gegenwärtige und künftige gesellschaftspolitische Entwicklungen finden insbesondere auch im Klassenzimmer statt. Jugendliche unterschiedlicher Herkunft, mit eigener Flucht- und Migrationserfahrung oder mit Flucht und Migration als Teil der Familiengeschichte, lernen gemeinsam über die NS-Zeit, besuchen Gedenkstätten, treffen ZeitzeugInnen. Während sich für SchülerInnen die Frage nach individueller und kollektiver Identität und ihrer Position zur österreichischen bzw. deutschen Vergangenheit und „Verantwortungsgemeinschaft“ stellt („Was hat das mit mir zu tun?“), stehen LehrerInnen und außerschulische PädagogInnen in Schulen, Gedenkstätten und anderen Bildungskontexten vor der Herausforderung, nationalstaatliche Narrative und homogenisierte Erinnerungsperspektiven auszuweiten und jene von zugewanderten Lernenden miteinzubeziehen. Dabei ist wesentlich, Erinnerungen nicht als miteinander in Konkurrenz stehend zu begreifen oder zu hierarchisieren. Die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust ist als globale Geschichte mit globalen Auswirkungen zu vermitteln, die Erinnerung daran kann sich demzufolge ebenfalls nicht an nationalstaatliche Grenzen halten. Angesichts der globalen Dimensionen von Weltkrieg und Holocaust ist es zudem nicht unwahrscheinlich, dass migrierte Jugendliche einen familiären Bezug zu den verhandelten Themen haben.

Pädagogisch-didaktisch reflektierte schulische oder außerschulische Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust sollte interkulturelle Perspektiven insofern berücksichtigen, als dass der Fokus auf der „‘Migrationsgesellschaft als Kontext statt auf Migrant[Inn]en als Zielgruppe‘“ (Angela Kühner) liegt. Als soziale Kondition betrifft „Migrationsgesellschaft“ schließlich sämtliche Teilhabende, unabhängig von ihrer Herkunft. Nicht-hegemoniale Wissensproduktion, Heterogenität in der Vermittlerpraxis sowie eine stärkere Subjektorientierung können als zentrale Ziele der Geschichtsvermittlung in post-migrantischen Gesellschaften formuliert werden.

 

Multiperspektivische Lehr- und Lernmaterialien mit Gegenwartsbezug

 

Effektive Bildungsangebote, die im Schulunterricht und an außerschulischen Lernorten eingesetzt werden, sollten in erster Linie niederschwellig zugänglich sein sowie an die Lebens- und Alltagswelten der Jugendlichen, ihren Erfahrungen, Interessen und Betroffenheiten anknüpfen. _erinnern.at_ entwickelt seit zwei Jahrzehnten mit interdisziplinären ExpertInnen-Teams Lehr- und Lernmaterialien, die unterschiedliche soziokulturelle Hintergründe und heterogene Erfahrungen der Zielgruppen nicht nur als Tatsache anerkennen, sondern diese inhaltlich auch verhandeln und adressieren. So basiert das Lernheft „Ein Mensch ist Mensch – Rassismus, Antisemitismus und sonst noch was…“[1] beispielsweise auf den persönlichen Erlebnissen und Aussagen von österreichischen Jugendlichen, die zum Teil eigene oder familiäre Migrationserfahrung haben.

Multiperspektivische, widersprüchliche und konfligierende Narrative und Erinnerungen sind auch dem von _erinnern.at_ gemeinsam mit internationalen KooperationspartnerInnen konzipierten Unterrichtsmaterial „Fluchtpunkte. Bewegte Familiengeschichten zwischen Europa und Nahost“[2] und den darin besprochenen Themen immanent. Flucht, Migration, Antisemitismus und Rassismus werden im Kontext der Geschichte des Nationalsozialismus und unter Berücksichtigung der Folgen historischer europäischer (Nahost-)Politik diskutiert. „Fluchtpunkte“ stellt Lebensgeschichten mit Flucht- und Migrationserfahrungen vor, die Verflechtungen der deutschen und österreichischen Geschichte mit der Geschichte des arabisch-jüdischen Nahen Ostens zeigen. Didaktisch erschlossen durch sechs Lernmodule ermöglichen die Biografien die Diskussion über strukturgeschichtliche und politische Prozesse, Identitätsbilder und unterschiedliche Narrative, wodurch „Wir-Die Anderen“-Dichotomien aufgebrochen werden können. Europa und der Nahe Osten werden nicht als separate, abgeschlossene Räume gedacht, nationale Selbstbilder durch transkulturelle Perspektiven infrage gestellt. Historische und aktuelle Ereignisse und unterschiedliche Opfergeschichten können verglichen, ohne gleichgesetzt oder hierarchisiert zu werden.

 

Zukunftsweisende Projekte

 

Was künftige Entwicklungen und Perspektiven in der Vermittlungsarbeit von Nationalsozialismus und Holocaust betrifft, sei auf ein innovatives Bildungsangebot in Kanada verwiesen, wo spezielle Workshops für NeuimmigrantInnen konzipiert wurden, die den Spracherwerb und das Lernen über den Holocaust verknüpfen.[3] In Kombination mit spezifischen Sprachlernmethoden helfen die von der IWitness-Plattform der USC Shoah Foundation[4] stammenden Videointerviews die neue Sprache zu erlernen, den Wortschatz aufzubauen, sowie gleichzeitig die Geschichte des Holocaust zu vermitteln. Lernenden werden konkrete Beispiele von Personen gezeigt, die flüchten mussten, in ein neues Land eingewandert sind und die notwendigen Fähigkeiten erworben haben, um sich erfolgreich in die Aufnahmegesellschaft zu integrieren. Auch wenn sich ihre eigene Flucht bzw. Migration nach Kanada erheblich von jener der Holocaust-Überlebenden unterscheidet, bilden die eingesetzten ZeitzeugInnen-Interviews sowie die gemeinsamen Erfahrungen der Einwanderung beim Aufbau eines neuen Lebens und sämtlichen damit verbundenen Schwierigkeiten und Herausforderungen ein pädagogisch sinnvolles Lernumfeld, so die Überlegung. Trotz innovativer und effektiver Bildungstools, die bereits zur Anwendung kommen, muss das Angebot an zielgruppenorientierten, multiperspektivischen, mehrsprachigen und auch in einfacher Sprache zugänglichen Unterrichtsmaterialien und -konzepten dennoch kontinuierlich erweitert werden.


[1] Lernheft: Ein Mensch ist ein Mensch

[2] https://www.fluchtpunkte.net/

[3] Carson Phillips: „The Limits of my Language are the Limits of my World“: Using Recorded Testimonies of Holocaust Survivors with English Language Learners. In: Werner Dreier/Angelika Laumer/Moritz Wein (Hg.): Interactions. Explorations of Good Practice in Educational Work with Video Testimonies of Victims of National Socialism (= Education with Testimonies, Vol.4), Berlin 2018, S. 252-265.

[4] https://iwitness.usc.edu/SFI/