Medienbericht: "Körperspenden" für die NS-Medizin

Die historische Rolle der Anatomischen Institute in Graz und Innsbruck während der NS-Zeit wurde nach dem Krieg verschwiegen oder gar vertuscht.

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Die anatomische Verwertung von NS-Opfern

Von Herwig Czech

Die Universität Wien sah sich Mitte der 1990er Jahre mit dem Vorwurf konfrontiert, Professor Eduard Pernkopf (Vorstand des Anatomischen Instituts, ab 1938 zuerst Dekan, dann Rektor) habe für seinen weltbekannten Anatomie-Atlas auf die Leichen von NS-Opfern zurückgegriffen.

Wie eine Untersuchungskommission später herausfand, war der Atlas allerdings nur die Spitze eines Eisbergs. Das Wiener Anatomische Institut hatte während des Krieges die Leichen von mindestens 1.377 Hingerichteten erhalten, darunter viele aktive KämpferInnen gegen das nationalsozialistische Regime.

"Die Anatomie braucht eben Leichen!"

Nach der Befreiung 1945 wurden diese Vorgänge in Schweigen gehüllt; selbst den nächsten Angehörigen war es nur unter den größten Schwierigkeiten möglich, die Herausgabe der Leichen zu erwirken.

Ein Institutsmitarbeiter brachte das folgendermaßen zum Ausdruck: "Die Anatomie braucht eben Leichen!" Trotz des großen öffentlichen Interesses an der Pernkopf-Affäre blieb eine kritische Aufarbeitung jedoch auf Wien beschränkt; die Universitäten Graz und Innsbruck wussten einer näheren Untersuchung aus dem Weg zu gehen.

Das Schicksal des 1890 geborenen Salzburger Hauptschullehrers Josef Reischenböck steht exemplarisch für die individuellen Lebensgeschichten, die sich hinter den erzwungenen "Körperspenden" verbergen. Politisch eigentlich dem christlich-sozialen Lager zugehörig, wandte er sich unter dem Eindruck des Krieges gegen die Sowjetunion der illegalen KPÖ in Salzburg zu und rief in Flugblättern zum aktiven Widerstand gegen das NS-Regime auf.

Dafür wurde er vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und im Mai 1943 in München hingerichtet. Seine Leiche gelangte anschließend in die Innsbrucker Anatomie, wo sie bis ins Wintersemester 1948/49 stückweise als Übungsmaterial im Sezierkurs diente.

Neben den Leichen von 60 Justizopfern aus München erhielt die Innsbrucker Uni außerdem 39 Leichen aus Kriegsgefangenenlagern in St. Johann im Pongau, Landeck und Jenbach, die sterblichen Überreste von sieben jüdischen Personen (fünf davon hatten Suizid begangen), sowie von zwei Männern, die am Innsbrucker Paschberg exekutiert worden waren.

Zwar leiteten die französischen Besatzungsbehörden 1948 eine Untersuchung dieser Vorgänge ein, die anatomische Verwendung der Leichen ist aber weit über diesen Zeitpunkt hinaus bis mindestens 1957 nachweisbar.

SS-Ausbildungszentrum Graz

Die Situation in Graz ist wegen der engen Verflechtungen mit der dortigen SS-ärztlichen Akademie besonders brisant. Der medizinische Nachwuchs der SS erhielt die anatomische Ausbildung im Rahmen des regulären Sezierkurses, wo regelmäßig die Leichen von Hingerichteten aus dem Grazer Landesgericht aufgelegt wurden.

Dabei handelte es sich um mindestens 87 Personen, die meisten von ihnen waren wegen aktiver Betätigung im Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime exekutiert worden. Zur Beschaffung von Studienpräparaten bediente sich die SS-ärztliche Akademie auch der Konzentrationslager Mauthausen/Gusen und Buchenwald, wo Studierende zahlreiche unnötige und oft tödliche Operationen an Häftlingen durchführten.

Zwischen 1942 und 1944 erhielt das Grazer Institut außerdem 71 Leichen aus der Heil- und Pflegeanstalt "Am Feldhof", darunter 17 Kinder und Jugendliche. Damit liegt auch ein Zusammenhang mit den NS-Euthanasieverbrechen nahe, die in der Anstalt zahlreiche Todesopfer forderten.

Professor lässt 44 Leichen verscharren

Auch in Graz erfolgte nach 1945 eine aktive Vertuschung. Im August 1946 wurde bekannt, dass der Institutsleiter Prof. Anton Hafferl, der trotz seiner NS-Involvierung die Befreiung vom Nationalsozialismus unbeschadet überstanden hatte, im Jänner 1946 heimlich die Leichen von 44 Justizopfern verscharren hatte lassen.

Eines der Opfer war Helene Serfecz, geboren im Jahr 1886. Sie war bereits in der Zwischenkriegszeit eine politisch aktive Marxistin. 1941 wurde sie für die Rote Gewerkschaft angeworben, für die sie Geldbeiträge sammelte und Mitglieder rekrutierte, darunter auch ihren Sohn Josef. Beide wurden im August 1941 verhaftet und 1943 im Abstand von wenigen Wochen in Wien bzw. Graz hingerichtet.

In einem Abschiedsbrief an ihren Ehemann, datiert vom Tag ihrer Hinrichtung am 13. September 1943, äußerte Helene Serfecz den Wunsch, nach ihrem Tod verbrannt zu werden. Ihrem Mann, der auch den Verlust seines Sohnes zu verkraften hatte, blieb die Möglichkeit verwehrt, diesen letzten Wunsch zu erfüllen oder an ihrem Grab zu trauern.

Sowohl an der Grazer als auch an der Innsbrucker Medizinischen Universität sind weitere Schritte im Sinne einer rückhaltlosen und umfassenden Aufarbeitung der NS-Zeit notwendig, wobei sich die Forschungsdesiderata keineswegs auf die Anatomie beschränken. An beiden Standorten stellt sich zudem die Frage, in welcher Weise die Opfer angemessen gewürdigt werden können. Ihre sterblichen Überreste wurden ohne ihr Einverständnis für Forschung und Lehre verwertet, wodurch vielen von ihnen bis heute eine offizielle Grabstätte oder zumindest ein sichtbares Andenken verwehrt geblieben ist.

Ein ausführlicher Beitrag "Von der Richtstätte auf den Seziertisch. Zur anatomischen Verwertung von NS-Opfern in Wien, Innsbruck und Graz" ist in der aktuellen Ausgabe des DÖW-Jahrbuchs erschienen.

15 Wissenschafter eingeladen: Anatomie arbeitet NS-Zeit auf