Bericht zur Arbeitstagung: Theorie und Praxis zu Holocaust Education in der Primarstufe Pädagogische Hochschule Tirol 2022

Natascha Osler berichtet über die Arbeitstagung, die am 2. und 3. Mai 2022 an der Pädagogischen Hochschule Tirol in Kooperation mit ERINNERN:AT stattfand.

Am 2. und 3. Mai 2022 fand an der Pädagogischen Hochschule Tirol in Kooperation mit dem OeAD-Programm ERINNERN:AT eine Tagung in Innsbruck zum Thema Holocaust Education in der Primarstufe statt. Dazu wurden ExpertInnen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz eingeladen. Es ging um die Frage, wie Holocaust und Nationalsozialismus in der Grundschule thematisiert und vermittelt werden können. Welche Inhalte, welche pädagogischen Zugänge und welche Lernmaterialien sind geeignet bzw. altersgemäß? Was brauchen die Lehrkräfte an theoretischem Wissen, methodisch-didaktischem Rüstzeug, Unterstützung und an Fortbildungsangeboten? Welche Rahmenbedingungen sind nötig?

Sowohl Detlef Pech vom Institut für Erziehungswissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin als auch Phillipp Mittnik vom Zentrum für Politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Wien verwiesen in ihren Impulsreferaten auf das bereits vorhandene Wissen der Kinder zum Holocaust und Nationalsozialismus. Studien zeigen, dass Kinder im Alter von neun bis zehn Jahren über umfangreiche Informationen zum Thema Holocaust und Nationalsozialismus verfügen. Sowohl Strukturen von Vernichtung und Verfolgung als auch die Person Adolf Hitler sind ihnen bekannt. Außerdem beschreiben Kinder laut einer Studie von Andrea Becher[1] das Herrschaftssystem als Regime, in dem kein Widerstand möglich war. Detlef Pech gab in einem vorab aufgezeichneten Vortrag einen Überblick über den Stand des Fachdiskurses in Deutschland. Das vorhandene Wissen der Kinder korrespondiere mit dem sozio-ökonomischen Hintergrund als auch mit migrationsbedingten Fragen. Er spricht von einer doppelten Benachteiligung der Kinder, die weder zuhause noch in der Schule an das Thema herangeführt werden. Bisher bestand Konsens darüber, dass die Vernichtung selbst in der Grundschule nicht thematisiert werden solle. Warum aber nicht altersgemäß über TäterInnen, HelferInnen, Schweigende, Widerstand, das Verständnis von Judentum sowie Jüdinnen und Juden als historische Akteure sprechen?

Den Stand des Fachdiskurses in Österreich zeigte Philipp Mittnik auf.[2] Er gab einen Einblick über den Inhalt von Holocaust und Nationalsozialismus in Schulbüchern und verdeutlichte: „Nicht nur eine Person hat Verbrechen begangen! Die Reduktion auf einen Schuldigen, um den Kindern einen leichteren Zugang zu ermöglichen, darf nicht sein!“ Außerdem machte Mittnik darauf aufmerksam, dass im Lehrplan 2023 für Sachunterricht keine inhaltliche Schwerpunktsetzung zum Thema der Tagung vorgesehen ist.

Vortrag von Philipp Mittnik zum Stand des Fachdiskurses in Österreich (Foto: PH Tirol).

Zu Nationalsozialismus und Holocaust gibt es zahlreiche Kinderbücher, die Frage ist, welche für den Unterricht in der Grundschule geeignet sind. Andrea Becher von der Universität Paderborn erklärte via Videoschaltung, wie anhand von „Sensibilisierungsbrillen“ eine Auswahl getroffen werden könne. Welcher Typ Kinder(sach)buch liegt vor? Enthält das Kinder(sach)buch hitlerzentristische Darstellungen und Aussagen? Sind im Kinder(sach)buch Bildzitate enthalten? Gibt es Biografien, die für Kinder über die Zeit des Holocaust und Nationalsozialismus berichten? Werden Facetten der „Gesellschaft des Holocaust“ identifizierbar? Da Kindern Bilder oft lange im Gedächtnis bleiben, gelte es darauf zu achten, dass diese keine NS-Propaganda reproduzieren. Unbedingt zu meiden sind Bücher, die Hitler in den Vordergrund stellen. Die Kinder sollen am Beispiel von Biografien lernen, denn das mache die gesellschaftliche Bedingtheit erfahrbarer Probleme bewusst und zeige die Einbettung des Individuellen in soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Prozesse und Strukturen auf.

Christian Mathis von der Pädagogischen Hochschule Zürich gab in seinem Vortrag einen Einblick in die Erforschung, Erstellung und Erprobung des Unterrichtsmaterials „Verfolgt und Vertrieben“[3]. Dieses Lehrmittel ermöglicht Lehrkräften die Vorbereitung des Themas unter Berücksichtigung der Vorstellungen der Kinder.

Ansätze für die Arbeit im Primarbereich anhand des Kinderbuches „Weg von hier…“[4] stellten Gertraud Hoheneder und Sharon Stamberger vor. Ihr Konzept ist, bei den Kindern Empathie mit den Opfern ihres Alters zu entwickeln, aber keine Identifikation hervorzurufen.

Vorgestellt und diskutiert wurden ausgewählte Projekte, Lernmaterialien und Kinderbücher, wie beispielsweise das Buch "Weg von hier..." (Foto: PH Tirol).

Veronika Nahm vom Anne-Frank- Zentrum in Berlin stellte Lernmaterialien für junge Lernende zu Nationalsozialismus, Holocaust und Antisemitismus vor. Sie wies auf die Problematik hin, dass Antisemitismus von Lehrkräften oft nicht erkannt und von Menschen meist gar nicht als Gewalt gesehen werde. Es mangle an Wissen zu Formen von Antisemitismus und über jüdisches Leben. Die vom Anne- Frank-Zentrum entwickelte Broschüre „Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule – Alltag von Jüdinnen und Juden in Berlin, Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorurteilen, Thematisierung des Holocaust“[5] soll Lehrkräfte diesbezüglich in ihrer Arbeit unterstützen. Auch Nahm betonte, dass Bilder lange im Gedächtnis der Kinder haften. Darum ist Lehrkräften zu raten, Darstellungen mit antisemitischen Stereotypen auch nicht in aufklärerischer Absicht zu zeigen, sondern auf Erzählungen zurückzugreifen.

Die Anwesenden der Tagung waren sich einig: Das Geschichtsbewusstsein wird schon in frühen Jahren geprägt, daher ist es wichtig, den Fokus auf die Altersgruppe der Primarstufe zu richten. Dafür brauche es eine curriculare Verbindlichkeit an Pädagogischen Hochschulen, eine inhaltliche Schwerpunktsetzung im Lehrplan der Grundschule und zur Umsetzung konkrete Materialien für Lehrkräfte. Unabdingbar ist ein differenziertes Begleitangebot an Fortbildungen.

Schließlich besteht die Chance durch die Thematisierung von Zeitgeschichte darin, Zugänge zum historischen Lernen zu schaffen, die Veränderbarkeit von Geschichte sichtbar zu machen und SchülerInnen dabei zu unterstützen, die eigene Positionierung in der Gesellschaft zu finden (Pech, 2012, S. 21).[6]

v.l.n.r.: Patrick Siegele, Irmgard Bibermann, Horst Schreiber und Claus Oberhauser (Foto: PH Tirol).

Die Arbeitstagung bildete den Ausgangspunkt für weitere gemeinsame Maßnahmen und Aktivitäten der PH Tirol und ERINNERN:AT in der Entwicklung von altersgerechten Konzepten und Materialien der Holocaust Education. So arbeiten Irmgard Bibermann und Christian Mathies an Unterrichtsmaterialien für den Primarbereich, etwa zur Lebensgeschichte von Dorli Neale (Dora Pasch) und Abraham Gafni (Erich Weinreb), die als Kinder Innsbruck verlassen mussten, um der Ermordung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Einen Unterrichtsfilm über Dorli Neale zum Einsatz in der Primarstufe konnte Christian Mathies vor Kurzem fertigstellen. Altersadäquate Vermittlungsangebote zu Abraham Gafni sind in der Entwicklungsphase. Lehrerinnen an einer Innsbrucker Volksschule testen im nächsten Unterrichtsjahr mit ihren SchülerInnen die erstellten Materialien. Die Rückmeldungen aus der Schulpraxis fließen dann in die Endredaktion der Unterrichtsmittel ein.

Die Ergebnisse aus diesem Prozess sollen in einer Folgetagung von 27. bis 28. April 2023 vorgestellt und diskutiert werden. Im Sinne einer länderübergreifenden Perspektive werden erneut Expertinnen und Experten aus Deutschland und der Schweiz nach Innsbruck eingeladen. Zielgruppe sind VolksschullehrerInnen und ExpertInnen sowie MultiplikatorInnen der Lehrkräfte-Aus- und Weiterbildung.

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[1] Becher, A. (2009): Die Zeit des Holocaust in der Vorstellung von Grundschulkindern. Eine empirische Untersuchung im Kontext von Holocaust Education, Oldenburg.

[2] Mittnik, Philipp (2018): Holocaust Education in Austrian Primary Schools: A plea for teaching the history of National Socialism to 9-10 year olds. – in: Holocaust Education in Primary Schools in the 21st century. Current Practices, Potentials and Ways Forward. S. 95-108.

[3] Mathis, C. und Urech, U. (2018): Verfolgt und Vertrieben – Lernen mit Lebensgeschichten. Lehrmittelverlag Zürich.

[4] Hoheneder, G. (2020): Weg von hier… Die Fluchtgeschichte es jüdischen Mädchens Ilse. Wagner Verlag.

[5] Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Hrsg.). (2020): Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule – Alltag von Jüdinnen und Juden in Berlin, Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorurteilen, Thematisierung des Holocaust.

[6] Pech, D. (2012): Sachunterricht und frühes historisches Lernen über jüdische Geschichte, Nationalsozialismus und den Holocaust – Entwicklung einer Diskussion. In Enzenbach, I., Pech, D., Klätte, C., (Hrsg.). Beiheft 8: Kinder und Zeitgeschichte: Jüdische Geschichte und Gegenwart, Nationalsozialismus und Antisemitismus (S. 21).