Rede von Frau Bundesministerin Dr. Claudia Schmied anlässlich der Buchpräsentation "Wie wir gelebt haben"

11. November 2008, Rathaus Wien.
Claudia Schmied spricht darüber, welche Bedeutung die Erinnerung an den Holocaust hat.

WIE WIR GELEBT HABEN

Herr Bundesminister

Frau Präsidentin des Nationalrates

Herr Staatssekretär

Exzellenzen

Herr Stadtrat

Sehr geehrte Damen und Herren.

Wien war und ist eine vielfältige und spannende Stadt. Das hat ganz wesentlich mit dem Phänomen Migration zu tun.  Zuwanderer und Zuwanderinnen haben nicht nur am Aufbau der Stadt mit gearbeitet, sondern sie haben das Kultur- und Geistesleben dieser Stadt entscheidend geprägt, beeinflusst und bereichert. Gerade die jüdische Zuwanderung in das Wien der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist dafür ein gutes Beispiel.

Vor dem 1. Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit waren knapp 10% der Wienerinnen und Wiener jüdisch. Unter ihnen waren berühmte Persönlichkeiten in Wissenschaft, Kultur, Kunst und Politik – denken wir nur an Sigmund Freud, den großen Psychoanalytiker oder an den Komponisten Gustav Mahler, den Arzt Victor Adler, der zu den Begründern der Sozialdemokratie gehört, oder an Theodor Herzl.

Der vielfältige jüdische Alltag im Wien der Vorkriegszeit zeigt sich an der Vielzahl der Synagogen und Bethäuser, an den 20 jüdischen Schulen und auch an der großen Zahl an Vereinen. Es gab allein 33 Jugendvereine, 21 Sport- und Turnvereine sowie 48 Frauenvereine. Jüdische Sportler und Sportlerinnen errangen bis 1932 bei olympischen Spielen 3 Gold-, 6 Silber- und 10 Bronzemedaillen für Österreich.

Wäre das die österreichisch-jüdische Geschichte, so passte sie wunderbar zum Mythos des toleranten Vielvölkerstaats Österreich, doch das wäre  nur die halbe Wahrheit. Die Wiener Juden fühlten sich als Wiener. Dennoch war es für sie alle schwierig in Wien Jude zu sein.

Denn das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden war durch den Antisemitismus stark beeinflusst. Schon Sigmund Freud musste an der Wiener Universität die Erfahrung machen, als "minderwertig" und "nicht volkszugehörig" angesehen zu werden, und er war nicht allein mit dieser Erfahrung.

Wir gedenken in diesen Tagen des Novemberpogroms vor 70 Jahren, jener gewalttätigen antijüdischen Ausschreitungen im ganzen nationalsozialistischen Deutschen Reich und insbesondere in unserer Stadt Wien. Die Nationalsozialisten zerstörten mit Unterstützung eines gewalttätigen Mobs Synagogen und Bethäuser, plünderten jüdische Geschäfte und Wohnungen. Zahlreiche Menschen wurden bei diesen Ausschreitungen ermordet. Mehr als 6.500 jüdische Bürger wurden verhaftet und viele in das Konzentrationslager Dachau deportiert.

Dieses vormals so reiche jüdische Leben in Österreich wurde in der Folge gewaltsam zerstört. Zehntausende Jüdinnen und Juden flohen aus Österreich, 65.000 wurden im Holocaust, der großen Katastrophe des europäischen Judentums, ermordet.

Das alles war möglich – und weil es möglich war, kann es auch wieder geschehen. Menschen sind unter bestimmten Umständen zu Völkermord fähig – wie sie auch zu friedlichem, bereicherndem Miteinander fähig sind.

Heute, 70 Jahre nach dem Anschluss, existiert wieder eine vielfältige, bewusste jüdische Gemeinde. Für mich war es als Bildungsministerin besonders bewegend vor einigen Wochen gemeinsam mit dem Herrn Bundespräsidenten den neuen jüdischen Schulcampus auf dem ehemaligen Gelände des berühmten jüdischen Sportclubs Hakoah zu eröffnen.

Und heute ist es selbstverständlich, dass an österreichischen Schulen eine angemessene Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust gefordert und gefördert wird. Dabei kommt es nicht nur auf historisches Wissen an: aus einer Vergangenheit, in der ein Miteinander verschiedener Kulturen gewaltsam zerstört wurde, lässt sich Wesentliches für ein gelingendes Miteinander in der Gegenwart lernen. Divergenzen und Konflikte sind Grundbestandteile des gesellschaftlichen Lebens –  es kommt einzig darauf an, wie mit Divergenzen  umgegangen und wie Konflikte demokratisch ausgetragen werden. Zuwanderung und Globalisierung bedeuten eine große Herausforderung, sind aber noch viel wesentlicher eine Bereicherung. Auch das lässt sich an der österreichisch-jüdischen Geschichte lernen. Die Bereicherung bewusst zu erleben und für die Konflikte demokratische und humane Formen der Austragung zu finden und zu erproben – dies sind wesentliche Aufträge an die Schule heute.

Das von meinem Ministerium gegründete LehererInnenfortbildungs-Institut _erinnern.at_ unterstützt dieses Lernen aus der Geschichte wie auch die zahlreichen vom Nationalfonds der Republik Österreich geförderten Projekte an Schulen.

„Centropa“, das „Zentrum zur Erforschung und Dokumentation jüdischen Lebens in Ost- und Mitteleuropa“ leistet dazu ebenfalls einen wichtigen Beitrag. Auf Initiative seines Begründers und Leiters  Ed Serotta sammelt und bewahrt es einen reichhaltigen Schatz an Lebensgeschichten, Dokumenten und Fotografien. Mit der Bibliothek der geretteten Erinnerungen stellt „Centropa“ diesen Schatz auch Schulen zur Verfügung. In einer Kooperation mit _erinnern.at_ werden aktuell Vermittlungsmodelle erarbeitet, die die Geschichten von jüdischen Menschen für österreichische Schülerinnen und Schüler zugänglich machen.

Auch das heute vorgestellte Buch steht auf der Grundlage dieser beeindruckenden Sammlung. Die in ihm präsentierten Geschichten und Fotografien erzählen vom jüdischen Leben vor der Katastrophe und in ihnen wird jener gedacht, die im Holocaust umkamen. Sie berichten  auch davon, wie nach der Katastrophe ein jüdischer Neubeginn in den Familien und Gemeinden möglich war.

Gerade im Hinblick auf die Notwendigkeit einer nach wie vor zu führenden ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sehen wir die Wichtigkeit eines solchen Buches, dem auch deshalb eine große Leserschaft zu wünschen ist.

Auch heute leben bei uns Flüchtlingskinder und auch heute stellt uns das Zusammenleben in einer Migrationsgesellschaft vor große Herausforderungen, deren Lösung nicht alleine den Schulen überantwortet werden darf. Die österreichischen Schulen können nur dann einen erfolgreichen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration leisten, wenn sie von einem Klima der Toleranz unterstützt werden, das durch kritische und mündige Bürgerinnen und Bürger hergestellt wird.

In diesem Zusammenhang möchte ich all jenen danken, die ihren Beitrag dazu leisten. Ich denke da an alle Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, die im ZeitzeugInnen-Programm meines Ministeriums teilweise seit vielen Jahren Schulen besuchen und über ihre schmerzlichen Erfahrungen berichten. Heute danke ich insbesondere jenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die ihre Erinnerungen dokumentieren ließen, sei es in Videointerviews oder schriftlich.

Ihre Erinnerungen werden von heutigen Jugendlichen sehr geschätzt. Das zeigen die ersten Erfahrungen mit DVD „Das Vermächtnis“. Dieses Lernprogramm mit gefilmten Zeitzeugen-Erinnerungen konnte ich zu Beginn des Sommers im Parlament präsentieren und es findet große Resonanz in österreichischen Schulen.

Das heute vorgestellte Buch hat die Erinnerungen von 100 Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zur Grundlage, denen ich für Ihre gar nicht selbstverständliche Mitwirkung danke. Ich kann mir vorstellen, dass es vielen von Ihnen nicht leicht gefallen ist, ihre Erlebnisse zu erzählen, da dieses auch mit einer großen Traurigkeit und Wehmut verbunden ist.

Mein Dank gilt auch jenen, die diese Erinnerungen aufbereitet haben, insbesondere Tania Eckstein, die die Interviews geführt hat, der Herausgeberin Julia Kaldori und natürlich Edward Serotta und dem gesamten Team von Centropa.

Ich danke den Förderern von Centropa. Ihre Unterstützung ist für die wichtige Arbeit von Ed Serotta und seinem Team unerlässlich. Es freut mich sehr, dass einige von ihnen meiner Einladung für heute Abend nach Wien folgen konnten. Ich begrüsse sehr herzlich Herrn Shale Stiller, den Präsidenten der Harry und Jeanette Weinberg Foundation und seine Frau, Richterin Ellen Heller, die Präsidentin des American Jewish Joint Distribution Committee, Herrn Dr. Jeffrey Solomon, den Präsidenten der Charles und Andrea Bronfman Foundation und seine Frau Audrey sowie Herrn Kongressabgeordneten Robert Wexler.

Weiters gilt mein Dank den Geldgebern des Buches, neben meinem Ministerium sind dies der Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus, die Kulturabteilung der Stadt Wien sowie das Bundesministerium für Soziales und Konsumentenschutz.

Ich freue mich auf die Präsentation des Buches und wünsche uns allen einen schönen Abend.

Danke.

 

Über Centropa:

Centropa ist der Internetname des in Österreich eingetragenen Vereins "Zentrum zur Erforschung und Dokumentation jüdischen Lebens in Ost- und Mitteleuropa". Gründer und Leiter ist der Fotograf und Journalist Edward Serotta.

Seit Beginn des Projekts "Jüdische Zeugen eines europäischen Jahrhunderts" im Jahr 2000 hat Centropa 1.350 Lebensgeschichten bewahren und 25.000 in Privatbesitz befindliche Familienfotografien digitalisieren können. Centropas Interviews wurden in Litauen, Lettland, Estland, Polen, Russland, der Ukraine, der Tschechischen Republik, Slowakei, Österreich, Moldau, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Serbien und der Türkei geführt. Mehr dazu: www.centropa.org