Der Nahostkonflikt und seine lange Geschichte

Ein Artikel von Steffen Hagemann

Als Teil des Web-Dossiers von ERINNERN:AT zum 7. Oktober und dem Krieg in Nahost gibt der folgende Artikel einen Überblick über die Geschichte des Konflikts. Dieser Text wurde erstmals in dem von „zentrum polis“ und ERINNERN:AT gemeinsam herausgegebenen polis aktuell 5/2022  „Nahost – Geschichte. Konflikt. Wahrnehmungen“ veröffentlicht. Für das Dossier wurde der Text durch den Autor Steffen Hagemann aktualisiert.

Der Nahostkonflikt ist einer der am längsten andauernden internationalen Konflikte, der durch seine Entstehungsgeschichte, den wiederkehrenden Gewaltaustrag, den Bezug zu den Heiligen Stätten der drei Weltregionen und seine Emotionalität eine besondere Aufmerksamkeit genießt. Im Kern handelt es sich um den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern und ihren Anspruch auf dasselbe Territorium, eingebettet ist dieser jedoch in einen breiteren israelisch-arabischen Kontext. Ein Blick auf die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts zeigt zudem, dass dieser neben der territorialen, auch eine ethno-nationalistische und eine religiöse Dimension umfasst. Diese Komplexität, welche auch die Identität und Legitimität beider Seiten betrifft, erschwert eine Konfliktregelung.

Historische Genese: Zionismus und Staatsgründung

Der Beginn des Konflikts liegt noch vor Gründung des Staates Israel. Ende des 19. Jahrhunderts war in Europa der politische Zionismus entstanden, der Ideen des europäischen Nationalismus aufnahm und die Gründung einer jüdischen nationalen Heimstätte in Palästina forderte. Angesichts des Antisemitismus in Europa sollte ein Staat mit jüdischer Mehrheit Schutz vor Verfolgung und Diskriminierung bieten. Die zionistischen Einwanderer in das ab 1920 von Großbritannien verwaltete Palästina erwarben hierzu Land und errichteten eigene Institutionen. Die Wahl Palästinas war dabei keineswegs zufällig, vielmehr verstand die zionistische Bewegung die Einwanderung nach Palästina als Rückkehr in die Heimat des jüdischen Volkes, aus dem es nach der Zerstörung des Zweiten Tempels vertrieben worden war. Die lokale arabische Bevölkerung fand sich zunehmend im Konflikt mit den Einwanderern um Bauland, landwirtschaftliche Nutzflächen und andere Ressourcen. Aus ihrer Sicht handelte es sich um einen Prozess der Kolonisierung, der die legitimen Ansprüche der lokalen Bevölkerung missachtete. So entstanden Konflikte zwischen arabischer Bevölkerung, jüdischen Einwanderern und der britischen Mandatsmacht, die in den 1930er Jahren zunehmend gewaltsam ausgetragen wurden. Angesichts der steigenden Gewalt wandte sich Großbritannien schließlich mit der Bitte um Vermittlung an die Vereinten Nationen. Ein Sonderausschuss bereiste die Region und sprach sich mehrheitlich für eine Teilung Palästinas in zwei Staaten aus. Dieser Empfehlung folgte schließlich auch die VN-Generalversammlung im November 1947 unter anderem gegen die Stimmen der arabischen Länder.

Neben umstrittenen historischen und religiösen Ansprüchen der Konfliktparteien verleiht die Resolution 181 sowohl der jüdischen wie der arabischen Seite eine völkerrechtliche Legitimation ihrer Ansprüche. Schon zu diesem Zeitpunkt werden allerdings die Schwierigkeiten einer Teilung ersichtlich: Eine vollständige Trennung der Bevölkerungsgruppen ist kaum möglich, Jerusalem wird als für beide Seiten religiös bedeutsamer Ort internationaler Verwaltung unterstellt und der genaue Verlauf der Grenze ist umstritten. Die arabische Seite wies den Beschluss als ungerecht zurück. Auch die zionistische Bewegung war über den Grenzverlauf nicht zufrieden, sie konnte jedoch das zentrale Ziel der Gründung eines Staates erreichen und stimmte dem Plan daher zu. Mit Ablauf des britischen Mandats rief David Ben Gurion am 14. Mai 1948 den Staat Israel aus. Eine Allianz aus fünf arabischen Staaten griff daraufhin Israel an. Der Krieg wird in Israel als Unabhängigkeitskrieg bezeichnet, er endete mit der Selbstbehauptung des Staates und Waffenstillstandslinien, die das international anerkannte Staatsgebiet Israels definieren. Für die palästinensische Seite wird die arabische Niederlage hingegen als Nakba (arabisch für Katastrophe) erinnert, insbesondere wegen der Vertreibung und Flucht von rund 700.000 Palästinenser*innen. Für diese Flüchtlinge gibt es bis heute keine Lösung.


Konfliktverlauf: Zwischenstaatliche Kriege und palästinensischer Widerstand

Mit der Gründung des Staates Israel begannen Jahrzehnte zwischenstaatlicher Konflikte, insgesamt sechs internationale Kriege wurden zwischen Israel und seinen Nachbarn (1948, 1956, 1967, 1973, 1985, 2006) ausgetragen. Besonders folgenreich war der Krieg von 1967, in dem Israel weitreichende territoriale Gewinne erzielen konnte. Israel wurde zur Besatzungsmacht und kontrollierte neben dem Sinai und dem Golan fortan die palästinensische Bevölkerung in Ostjerusalem, dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen. Die Vereinten Nationen forderten als Reaktion auf den Krieg in der Resolution 242 den Rückzug der israelischen Truppen aus (den) besetzten Gebieten und bekräftigten zugleich das Recht aller Staaten, d.h. auch Israels, in sicheren und anerkannten Grenzen zu leben. Zu einem Friedensschluss kam es jedoch nicht. 

Nach der Niederlage 1967 veränderte sich allmählich die politische Konstellation im Nahen Osten. Einige arabische Staaten waren an einer Konfliktlösung mit Israel interessiert. So leitete der Krieg von 1973 den ersten Friedensprozess im Nahen Osten ein: Der anfängliche militärische Erfolg der ägyptischen Armeen hatte Verhandlungen zwischen Israel und Ägypten möglich gemacht, die schließlich in einem Rückzug Israels aus dem Sinai und dem ersten Friedensvertrag zwischen Israel und einem arabischen Staat mündeten. Zugleich begannen die Palästinenser sich in der 1964 gegründeten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zu organisieren, um ihr Ziel der nationalen Selbstbestimmung zu erreichen.

Die spektakulären Terroranschläge der PLO in den 1970er Jahren hatten den Palästinensern zwar Aufmerksamkeit gebracht, ihr Anliegen in den Augen der Weltöffentlichkeit aber delegitimiert. Im Dezember 1987 nahm die lokale Bevölkerung in den besetzten Gebieten den Protest in die eigene Hand und organisierte einen weitgehend zivilen und lokalen Widerstand gegen die israelische Besatzung. Die Exil-PLO setzte sich an die Spitze des Aufstandes und forderte auf Grundlage der UN Resolutionen 181 und 242 einen palästinensischen Staat in den von Israel besetzten Gebieten. Zugleich gründete sich die islamistische Hamas-Bewegung, die als Ziel die "Befreiung" des gesamten historischen Palästinas forderte.

Gescheiterte Friedensverhandlungen

Mit dem Ende des Kalten Krieges öffnete sich ein Fenster für multi- und bilaterale Friedensverhandlungen. Mit der Unterzeichnung der israelisch-palästinensischen Prinzipienerklärung 1993 begann der sogenannte Osloer Friedensprozess, sein Kernstück war die gegenseitige Anerkennung des Staates Israel und der PLO. Zudem wurde vereinbart, dass Israel sich schrittweise aus Teilen der besetzten Gebiete zurückzieht und politische Zuständigkeiten an die neu gegründete palästinensische Autonomiebehörde überträgt. Die großen Streitfragen nach dem Verlauf der Grenzen, der Zukunft der Siedlungen, dem Status Jerusalems und der Flüchtlingsfrage blieben zunächst jedoch ausgeklammert. Der Friedensprozess von Oslo gilt heute als gescheitert, unter anderem da keine Sanktionsmechanismen bei Nicht-Einhaltung der Verpflichtungen bestanden und Gegner politischer Kompromisse die lange Interimszeit nutzten, um den Friedensprozess durch Terror und das Schaffen von Fakten zu torpedieren.
In der israelischen Gesellschaft ist mit der Gewalt der Zweiten Intifada der Glauben an eine verhandelte Regelung verloren gegangen, auf palästinensischer Seite haben der anhaltende Siedlungsbau und die weiter bestehende Besatzung die Hoffnung auf einen Friedensschluss und die Gründung eines eigenen Staates unterminiert. Die brutalen Terrorangriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 zeigen, dass durch diese Entwicklungen jene Kräfte, die Kompromisse ablehnen und die Ansprüche der anderen Seite grundsätzlich ablehnen, gestärkt wurden. Die Angriffe der Hamas und der darauf folgende israelische Krieg im Gazastreifen haben in der israelischen und palästinensischen Gesellschaft Traumatisierungen und Unsicherheiten ausgelöst und erschweren so Wege zu einer Konfliktregelung.

Über den Autor

Dr. Steffen Hagemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Kaiserslautern im Fachgebiet Politikwissenschaft. Er hat Politikwissenschaft sowie Friedens- und Konfliktforschung an den Universitäten Marburg, Tel Aviv und FU Berlin studiert. Steffen Hagemann war 2018-2022 Leiter des Büros Tel Aviv der Heinrich-Böll-Stiftung und ist Autor zahlreicher Publikationen zum Nahostkonflikt.

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