80 Jahre Befreiung und Kriegsende: Die Perspektiven der Opfer, der TäterInnen und in der Bevölkerung

Die Erleichterung über das Kriegsende war groß, als Befreiung sahen viele den Sieg der Alliierten nicht. Verfolgte und ehemalige Nazis erlebten die Beseitigung der NS-Herrschaft höchst unterschiedlich.

Reinhold Stecher, Bischof der Diözese Innsbruck von 1981–1997, war als junger Mann Soldat und geriet in Kriegsgefangenschaft. Als der Krieg zu Ende ging, notierte er: „Ich bin ein Gefangener und habe mich seit Jahren nicht so frei gefühlt wie jetzt.“ Das Kriegsende begrüßten fast alle, die Stimmung war aber nicht so eindeutig, wie bei Reinhold Stecher. In Innsbruck spielten sich in den Stunden der Befreiung auf den Straßen Freudenszenen ab, doch dies konnte täuschen. Die Jubelnden waren Frauen, Kinder, Jugendliche, ausländische Zwangsarbeitskräfte, Kriegsgefangene, Angehörige der Widerstandsbewegung und solche, die gerade noch rechtzeitig die Seiten gewechselt hatten. Ein großer Teil der Stadtbevölkerung blieb daheim und wartet ab; die einen waren erleichtert, die anderen plagte die Ungewissheit, viele fürchteten die Rache der Alliierten. Nicht nur die Nationalsozialisten lehnten Beifallsbekundungen ab, viele sahen im Jubel einen Verrat an den Soldaten. Auch 60 Jahre nach dem Krieg erinnerte sich eine Augenzeugin empört über die Begeisterung um den Feind, der „unsere Städte bombardiert und unsere Soldaten tot oder zu Krüppeln“ geschossen hat. Sie sah in diesem Verhalten Charakterlosigkeit.

Ein zahlenmäßig schwer einzuschätzender Teil der Bevölkerung empfand die Ereignisse an diesem 3. Mai 1945 in Innsbruck als Befreiung, die große Mehrheit war zweifellos froh, dass der Krieg endlich aus war. Helene Egger, die dem NS-Regime ferngestanden war, brachte die Stimmung vieler Menschen zum Ausdruck: „Eine ganz helle Freude herrscht nicht, zu viel erlebtes Elend + Schrecken drückt, zu viel ist kaputt und trübe, neue Zeiten sind in Aussicht. Aber doch ist es leichter“.

Die Opfer des Nationalsozialismus in den Gefängnissen und Lagern atmeten auf, für sie war der Sieg der Alliierten die Befreiung vom Terror der Nazis, die Rettung des nackten Lebens. Dennoch waren die Schattenseiten unübersehbar. Roma, Sinti und Jenische sowie den wegen ihrer sexuellen Orientierung verhafteten Menschen wurden weiter diskriminiert, polizeilich verfolgt und der Opferstatus verweigert. Deserteure galten für kurze Zeit als Widerständler, dann Jahrzehnte lang als Vaterlandsverräter. Die Holocaustüberlebenden kamen traumatisiert aus den Lagern, hatten Verwandte verloren, ihren Besitz, meist auch die Heimat. Der Antisemitismus lebte weiter, die wenigen, die zurückkehrten stießen auf wenig Verständnis. Die bloße Anwesenheit von Juden und Jüdinnen erinnerte an die nationalsozialistische Vergangenheit, die Verbrechen und das eigene Verhalten, an Schuld und Verantwortung, die man abwehren und leugnen wollte. Die Gegenwart der Überlebenden erschwerte es, zwei Mythen aufrechtzuerhalten: vom unsichtbaren Lager und der eigenen Opferrolle. Über die KZ‘s habe man nichts gewusst, die Nationalsozialisten hätten ihre Verbrechen hinter dem Rücken der Bevölkerung begangen, und gelitten in Zeiten des Krieges und der Nazi-Herrschaft hätten beide gleichermaßen, die jüdische Bevölkerung wie die Tiroler.

Für die überzeugten Nazis war eine Welt zusammengebrochen, nicht wenige dachten an Selbstmord, einige schritten auch zur Tat und töteten sogar die eigenen Kinder. Die meisten fühlten sich als Opfer, wenn sie zur Rechenschaft gezogen wurden, so auch ehemalige Führerinnen des Bundes deutscher Mädel.

 Literatur:

Claudia RAUCHEGGER-FISCHER: „Sind wir eigentlich schuldig geworden?“ Lebensgeschichtliche Erzählungen von Tiroler Frauen der Bund-Deutscher-Mädel-Generation, Innsbruck–Wien–Bozen 2018.

Horst SCHREIBER: Endzeit. Krieg und Alltag in Tirol 1945 (Studien zu Geschichte und Politik, Band 26, hg. von Horst Schreiber, Michael-Gaismair-Gesellschaft/ERINNERN:AT), Innsbruck 2020.

Horst SCHREIBER: Nationalsozialismus und Faschismus in Tirol und Südtirol. Opfer. Täter. Gegner. Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern Band 1, Innsbruck 2008.

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