80 Jahre Befreiung und Kriegsende: Der Todesmarsch jüdischer Häftlinge des KZ Dachau nach Tirol
Am 15. April befahl Reichsführer-SS Heinrich Himmler im Zuge der Räumung der Konzentrationslager angesichts der herannahenden Truppen der Alliierten, KZ-Häftlinge ins Tiroler Ötztal zu schicken. Dort baute die Rüstungsindustrie bei Haiming einen riesigen Windkanal, der Arbeitskräfte bitter nötig hatte.
Am 28. April 1945 erreichten rund jüdische 1.700 Häftlinge des KZ Dachau mit dem Zug Seefeld. Sie sollten über Mösern und Telfs zu Fuß ins Ötztal gelangen. Viele starben bereits auf dem Marsch von Mösern nach Seefeld. Gauleiter Franz Hofer verweigerte die Aufnahme des Gefangenentransports und befahl, die Gefangenen nach Bayern zurückzutransportieren.
Am Morgen des 29. April 1945 brach die Kolonne wieder auf. Die Schwächsten blieben am Wegesrand liegen, Möserer Bauern bestatteten sie in Sammelgräbern. In Seefeld fanden viele Unterschlupf, für manche kam aber jede Hilfe zu spät. Eine große Zahl von Häftlingen stieg in einen Materialzug, vor Scharnitz war jedoch Endstation. Dutzende wurden in Lastautos über die Grenze gestellt. Der Gendarmerieposten Scharnitz stellte fest: „Diese gänzlich ausgehungerte Judenmenge drang in das Dorf Scharnitz ein. Von der Wehrmacht u. Gendarmerie wurden sie neuerdings gegen Mittenwald zurückgedrängt.“ Am 30. April floh die Wachmannschaft, US-Truppen standen kurz davor, die Scharnitzer Klause zu überwinden. Die unbewachten KZ-Häftlinge waren nun endgültig frei.
Hunderte schlugen sich nach erfolgreicher Flucht oder unter Aufsicht der SS zu Fuß und im Zug Richtung Telfs, Haiming und Ötztal durch. Dort gab es kein Weiterkommen, sie erlangten erst am 3. Mai 1945 ihre Freiheit.
In allen Orten zwischen Mittenwald und Telfs starben jüdische Häftlinge an Entkräftung oder wurden vom Wachpersonal getötet. Die Leichen der Opfer wurden nach dem Krieg exhumiert und in Seefeld in Massengräbern verscharrt. Um diese Gräber entstand 1948 der Waldfriedhof, auf dem das Schwarze Kreuz und das Komitee Jüdischer Flüchtlinge 63 jüdische Opfer bestattete. Im Oktober 2016 eröffnete im Seefelder Waldfriedhof eine Gedenkstätte für die Ermordeten des Todesmarsches.
Literatur:
Thomas ALBRICH/Stefan DIETRICH: Todesmarsch in die »Alpenfestung«. Der Evakuierungstransport« aus dem KZ Dachau nach Tirol Ende April 1945, in: Geschichte und Region/storia e regione 6 (1997), S. 13–50.
Horst SCHREIBER: Endzeit. Krieg und Alltag in Tirol 1945 (Studien zu Geschichte und Politik, Band 26, hg. von Horst Schreiber, Michael-Gaismair-Gesellschaft/ERINNERN:AT), Innsbruck 2020, S. 229–235.
Horst SCHREIBER: Gedächtnislandschaft Tirol. Zeichen der Erinnerung an Widerstand, Verfolgung und Befreiung 1938–1945 (Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs, Neue Folge, Band 68 – Studien zu Geschichte und Politik, Band 24, hg. von Horst Schreiber, Michael-Gaismair-Gesellschaft/ERINNERN:AT), Innsbruck-Wien-Bozen 2019, S. 235–241.