Broschüre Gedenkort Lager Reichenau

Information zum Lagerkomplex, zu den Toten, zur Nachnutzung, Archäologie und zum neuen Gedenkort

2026 wird die neue Gedenkstätte zum Arbeitserziehungslager Reichenau der Öffentlichkeit übergeben werden. Die Stadt Innsbruck hat eine Broschüre herausgegeben, die einen ersten Überblick über die Geschichte des Lagers und den geplanten Gedenkort gibt: Download der Broschüre

Horst Schreiber zum Arbeitserziehungslager Reichenau                                         

Tagesbericht des Rüstungskommandos Ibk zum 20.1.1942: „Das in der Reichenau bei Innsbruck von der Geheimen Staatspolizei geleitete Straflager hat einen Fassungsraum für 800 Personen (...) Das Lager dient vor allem der Arbeitserziehung für vertragsbrüchige in- und ausländische Arbeiter. Eine abschreckende Wirkung auf die ausländischen Arbeiter scheint bereits erzielt worden zu sein, da nach Eröffnung des Lagers der Zustrom vertragsbrüchiger italienischer Arbeiter gegen die Brennergrenze erheblich nachgelassen hat.“

Man behandelte sie wie Kriminelle, heißt es in einem Bericht Überlebender. Bei der Ankunft setzten sofort die typischen Erziehungsmaßnahmen des Lagers Reichenau ein: Es hagelte Schläge, die SS-Männer schrien sich die Lungen aus dem Leib, ein ohrenbetäubender Lärm schüchterte ein.

Gesicht zur Wand, Stillstehen, damit die Schergen tun konnten, wonach sie gierten: rauben und stehlen. Was die Neuankömmlinge bei sich hatten, beschlagnahmten die Wachen, selbst die Haare durchwühlten die SS-Männer. Was die Wachen antrieb, war Habgier ebenso wie pure Bösartigkeit, die Lust, sich am Leid anderer zu erfreuen. Sie jagten die Häftlinge nackt in die Duschen, abwechselnd prasselte eiskaltes und brühend-heißes Wasser auf sie nieder. In dünne Häftlingskleidung gesteckt, standen sie da: ohne Socken, Fetzen um die Füße gewickelt, trotzdem wundgerieben von den klobigen Holzschuhen. Unerträgliche Kälte im Winter, Erfrierungen an den Füßen. Die Köpfe kahlgeschoren, die Namen ausgelöscht – alle bekamen eine Identifikationsnummer. Waren Nummern, keine Menschen mehr.

Die Ernährung war ungenügend, die Zubereitung grauenhaft, der Nährwert gering. Der Ersatzkaffee glich heißem Wasser, dazu gab es ein Stück Brot. Zu Mittag eine Suppe, ein gesalzenes Nass, in dem Spinatblätter oder Radieschenscheiben ein trauriges Dasein fristeten. Ein Gefangener schnitt ein Brot in mehrere hauchdünne Scheiben: „Ich packte sie in eine Tasche und jedes Mal, wenn ich hungrig war, nahm ich ein Stück und saugte daran.“

Was auch immer die Häftlinge taten, die Reaktion der Aufseher war Gewalt, Lagerkommandant Mott feuerte seine Leute an: „Schlagt den Hunden das Kreuz ab, wenn sie nicht arbeiten wollen.“ Ohrfeigen, Fußtritte, Stockhiebe, Peitschenhiebe – Niederprügeln, Aufprügeln – Essensentzug, Rundenlaufen unter Schlägen. Kaltbaden und Bunkerhaft. Die Häftlinge wurden mit einem Wasserstrahl angespritzt, bis sie blau gefroren waren oder ohnmächtig wurden. Danach ab in den Bunker, im Winter bei Minusgraden, Betonboden.

Auch Hunde hetzte die Lagerwache auf die Häftlinge.

Die meisten Insassen waren Ausländer, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus allen von der Wehrmacht besetzten Ländern, die meisten aus Italien, Polen, der Ukraine und anderen Teilen der UdSSR. Doch von Anfang an wurden auch Tiroler ins AEL Reichenau überstellt.

Wer sich unerlaubt vom Arbeitsplatz entfernt, nicht die Stelle annimmt, die das Arbeitsamt anordnet oder ohne Erlaubnis selbstständig den Arbeitsplatz wechselt, kommt in die Reichenau. Wer „meckert“, unpünktlich ist, zu langsam arbeitet, „unberechtigt“ krank ist oder sich „disziplinwidrig“ verhält, sieht sich dem Vorwurf von Arbeitsverweigerung, verminderter Arbeitsleistung oder gar Sabotage ausgesetzt. Terror und schwere körperliche Arbeit soll diese Widerspenstigen erziehen, damit sie wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren: als gehorsame Arbeiter.

Die Häftlinge des Arbeitserziehungslagers waren billige Arbeitskräfte und wurden vermietet, an die Stadt Innsbruck ebenso wie an Privatfirmen, vor allem an Bauunternehmen, auch dort setzte es Schläge.

Die Reichenau war Auffanglager, Arbeitserziehungslager, eine Art KZ der Gestapo und: Als Durchgangslager war die Reichenau Zwischenstation für hunderte Häftlinge auf dem Weg in ein KZ, vor allem nach Dachau, aber auch ins Vernichtungslager Auschwitz.

Am 16. Dezember 1943 wurden sieben ausländische Gefangene im Lager Reichenau gehängt. Zur selben Zeit starb der ukrainische Bub Iwan Gwosdik im Bunker, die SS hatte ihn vorher kalt abgespritzt. Er war 12 Jahre alt. Der chinesische Wanderhändler Chee Chung Tseng aus Mailand wurde im April 1944 erschossen. Am 25. April 1945 ordnete die Gestapo die Hinrichtung von acht sowjetischen Kriegsgefangenen an. Pfeife rauchend zerrte Sanitäter Matthias Köllemann an den noch hängenden Menschen, um den Tod festzustellen: „Der ist schon hin, der ist auch schon hin.“ Die Reichenau war also auch eine Hinrichtungsstätte.

Insgesamt dürften mindestens 8.600 Menschen im AEL inhaftiert gewesen sein, ums Leben kamen in der Reichenau nachweislich 114 Häftlinge. Die Reichenau war ein Lagerkomplex. Hier gab es das Arbeitserziehungslager, aber auch noch ein Lager der Stadt Innsbruck, der Reichspost und der Reichsbahn. In und um Innsbruck befanden sich bis zu 40 weitere kleinere Firmenlager.

Diese Topographie des Terrors ist noch nicht erstellt, sicher ist: Wo immer wir in Tirol leben, haben wir es nicht weit zu einem Lager der NS-Zeit, das von der Barbarei in unmittelbarer Nähe unserer Wohnbereiche kündet.

Es geht aber nicht nur um Erinnerung, es geht um ein Bewusstsein der Gefährdung und Zerbrechlichkeit unserer Zivilisation, ein Bewusstsein unserer Erfahrung aus der Zeit des Nationalsozialismus, dass der Zivilisationsprozess umkehrbar ist.

Veröffentlicht am 26.08.2025, zuletzt geändert 05.09.2025