Antisemitismuskritische Bildungsarbeit

Was versteht man unter antisemitismuskritischer Bildungsarbeit? Im Folgenden bekommen Sie einen Überblick darüber, auf welchen Ansätzen antisemitismuskritische Bildungsarbeit fußt.

In der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus gibt es grundsätzlich kein allgemein gültiges Rezept oder automatisch anwendbare „Problemlösungen“. Vielmehr wurden über die Jahre unter der Bezeichnung antisemitismuskritische Bildungsarbeit theoretisch definierte und praktisch erprobte Herangehensweisen und Ansätze diskutiert und erarbeitet, die ein sensibles und nachhaltiges Gelingen ermöglichen. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit bezeichnet demnach pädagogische Ansätze und Konzepte, die antisemitische Denkmuster, Erscheinungsformen, Funktionen und strukturelle Mechanismen thematisieren, und gehen über die Vermittlung von jüdischer Geschichte und Holocaust Education hinaus. Antisemitische Denk- und Handlungsmuster werden dabei nicht ausschließlich als individuelles, sondern ebenso als strukturelles und gesamtgesellschaftliches Phänomen verstanden. Die Ansätze antisemitismuskritischer Bildungsarbeit charakterisieren sich durch folgende Aspekte:

 

Für ein Gelingen der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus ist die Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion zentral, die bei den Pädagoginnen und Pädagogen selbst beginnt: Erst durch das Reflektieren und Thematisieren der eigenen Involviertheit in Vorurteile und gesellschaftliche Ausgrenzungspraktiken wird es möglich, glaubhaft mit Schülerinnen und Schülern über Formen von Abwertung und Ausgrenzung zu sprechen und diese selbst zu einem kritisch-reflexiven (Problem-)Bewusstsein zu motivieren.

Die Subjektorientierung stellt einen weiteren wesentlichen Bestandteil dar: Antisemitismus soll nicht über seine „Objekte“, also über Jüdinnen und Juden thematisiert werden, sondern es sollen die verschiedenen Emotionen und Vorstellungen der Lernenden in den Blick genommen werden. Besonders über die Thematisierung der Entstehung und der Funktionen von antisemitischen Stereotypen und Projektionen können soziale und eigene Mechanismen besprechbar gemacht und schließlich dekonstruiert werden.

Eine aktive Vermeidung der Reproduktion von Stereotypen soll angestrebt werden. Das Argumentieren mit verallgemeinerbaren Werten und Haltungen (bspw. demokratische Werte) kann helfen, sich von „anders machenden“ Fremdzuschreibungen zu lösen.

Ausgangspunkt für einen Lernprozess gegen Antisemitismus können eigene (Diskriminierungs-)Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern sein. Dabei ist ein intersektionaler Ansatz und zuschreibungssensible Praxis unterstützend, der verschiedene Ausgrenzungserfahrungen in seinen Gemeinsamkeiten und weniger in seinen Unterschieden thematisiert und auf Pauschalisierungen verzichtet. Bei der Bearbeitung unterschiedlicher Ausgrenzungserfahrungen muss keine Entweder-Oder-Entscheidung oder Hierarchisierung getroffen werden. Ziel ist es, über das Gemeinsame die Empathie mit „Anderen“ zu fördern sowie Allianzen unterschiedlicher Betroffenen und ihrer Unterstützerinnen und Unterstützern zu schaffen.

Die Einbindung von jüdischen Perspektiven und Erfahrungen als Lerninhalte sind wichtig, um nicht nur über Jüdinnen und Juden zu sprechen, sondern mittels verschiedener Formate die Vielfalt jüdischen Lebens und die heterogenen Erfahrungen von Jüdinnen und Juden sichtbar zu machen. Dafür sind geschützte Lernräume notwendig, die sowohl Schülerinnen und Schüler motivieren, offen zu sprechen, wie auch jüdische Schülerinnen und Schüler vor einer Reproduktion antisemitischer Stereotype und Vorwürfe schützen.

In Begegnung(sformaten) und Dialog(projekten) muss darauf geachtet werden, dass keine Zuschreibungen oder Stereotype (unfreiwillig) reproduziert werden. Das Sprechen über Antisemitismus ist oftmals mit vielen Emotionen verbunden, dementsprechend leisten Begegnungsformate nur dann einen sinnvollen Beitrag, wenn sie umfassend mit Vor- und Nachbereitungen in den Unterricht eingebunden sind.

Die Auseinandersetzung mit aktuellem Antisemitismus kann die Bearbeitung des Konflikts im Nahen Osten nicht aussparen. Dabei soll die Komplexität des Konflikts berücksichtigt und im Sinne der Multiperspektivität und Kontroversität die Vielfalt an unterschiedlichen Perspektiven aufgezeigt werden. Multiperspektivität fordert dazu heraus, sich des eigenen Standpunktes bewusst zu werden und diesen von einer anderen geographischen, politischen oder sozialen Position aus zu betrachten und einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Grenzen des Sagbaren zu setzen ist wichtig, sollen aber begründet werden.  

Der Vereinfachung des Antisemitismus mit seinem vermeintlichen Dualismus kann die Stärkung der Widerspruchstoleranz entgegengesetzt werden. Es gilt den Umgang und das Aushalten von Komplexität, Widersprüchen und Ambivalenzen zu erlernen. In der Schule benötigt dies einen möglichst neutralen und angstfreien Raum (um sich artikulieren zu können), genügend Zeit (sich mit dem Gegenstand in ein Verhältnis setzen zu können) sowie Verlässlichkeit und Vertrauen (in die Möglichkeit der Artikulation ohne Sanktionen, ebenso wie in klar gesetzte Grenzen).

Nicht zuletzt ist für eine sensible Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ein politisches und soziales Lernen wichtig, das bei konkreten Erfahrungen und der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler ansetzt und die Heterogenität und Vielfalt der Welt auch als solche im Klassenzimmer versteht und fördert. Daraus kann eine Beschäftigung mit einer multidirektionalen (vielfältigen und mehrschichtigen) Erinnerungskultur erfolgen, die dennoch den in Österreich verständlichen Fokus auf die Shoah nicht negiert. Moralisierungen und Belehrungen sollten dabei vermieden werden, da sie zu einer Abwehr an der Auseinandersetzung führen können.

Veröffentlicht am 21.08.2025, zuletzt geändert 21.08.2025