Schulprojekt: Wenn Schülerinnen Geschichte erzählen

Schülerinnen aus Favoriten gestalteten einen Erinnerungsweg für Opfer des Nationalsozialismus.

An der Ecke Urselbrunnenstraße / Laaer Wald, direkt am Eingang zum Böhmischen Prater, steht ein Denkmal, dessen Bedeutung sich nicht so recht erschließt: Da ist eine Marienstatue in einer kleinen Kapelle, davor eine schon etwas verwitterte Metalltafel, die vage verrät, zu wessen Andenken das Denkmal errichtet wurde: „Gewidmet den Opfern des 10. Bezirks 1938 – 1945. Errichtet 1948“ steht auf der Tafel geschrieben. Der Gedenkstein beim Böhmischen Prater ist der Startpunkt eines Erinnerungsweges, bei dem an sechs Stationen über die nationalsozialistische Vergangenheit des zehnten Wiener Gemeindebezirkes erzählt wird. Initiiert und gestaltet wurde der Erinnerungsweg von 20 Schülerinnen und vier Lehrerinnen der BAfEP10. Dieser heute kaum beachtete Gedenkort wird im Zuge des Projekts neugestaltet und am 15. September der Öffentlichkeit präsentiert.

Die derzeitige Gedenktafel beim Denkmal an der Urselbrunnengasse

Projektinitiatorin Mag.a Daniela Lackner erzählt, “Beim Joggen ist mir ein unscheinbarer Gedenkstein beim Böhmischen Prater aufgefallen: `Gewidmet den Opfern des 10. Bezirks 1938 – 1945´. Wer hat ihn aufgestellt? Wer waren diese Opfer? Diese beiden Fragen waren sozusagen der Beginn des Projektes. Dann habe ich begonnen zu recherchieren und mir wurde klar, das könnte doch auch für unsere Schüler:innen interessant sein. Durch Nachdenken darüber und Recherchen ist die Idee zu diesem Projekt entstanden. Über das Zwangsarbeiter:innenlager in der Schrankenberggasse etwa war mir gar nichts bekannt, obwohl es in Gehweite unserer Schule ist und ich Lehrerin für Geschichte und Politische Bildung bin. Nach und nach ist uns klar geworden, wie reich an Geschichte dieser klassische Arbeiterbezirk ist und wieviele Opfergruppen einen historischen Bezug zu unserer direkten Nachbarschaft haben.” 

Eine Besonderheit des Erinnerungsweges ist, dass der Einstieg über den QR-Code zu einer App führt, die in den Sprachen BKS, Türkisch, Arabisch, Russisch, Deutsch und Englisch Informationen zu den einzelnen Stationen bereitstellt. Die Idee dazu kam von den Schülerinnen, die sich für Geschichte interessierten und dazu „selber etwas machen“ wollten. Aida, 16, erklärt, “Der 10. Bezirk ist reich an verschiedenen Kulturen, wir hier in unserer Gruppe auch. Unsere Eltern beherrschen die deutsche Sprache oft nicht so gut. Daher haben wir unsere Texte in Sprachen, die im Zehnten oft vorkommen, übersetzt.“

Zusätzlich haben die Projektteilnehmerinnen, zwanzig Schülerinnen der 3. und 4. Klassen, Archivmaterialien aufbereitet und Interviews geführt, etwa mit Historikerinnen des Wiener Wiesenthal Institutes und mit jüdischen Jugendlichen, die sie im Rahmen des Projekts „Likrat“ der Israelitischen Kultusgemeinde Wien treffen konnten. Harjija, 19, schildert ihre Eindrücke davon, “Es war erstaunlich, wie aktuell und spürbar dieser Schmerz für jüdische Jugendliche ist und wieviel Rassismus sie immer noch erleben.” Die Schülerinnen haben weiterführende Links zu Institutionen wie dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes recherchiert und zu jeder Station Arbeitsmaterialien gestaltet, damit der Erinnerungsweg auch von Schulen im Bezirk genutzt werden kann. Die Beschäftigung mit der Geschichte und mit Gedenkkultur hat aber auch zu persönlichen Erkenntnissen geführt: “Ich hab so viel gelernt, auch über meine eigene Geschichte. Ich wusste nicht, dass meine Urgroßeltern Partisanen waren!” berichtet Aida, 16. Die Familiengeschichten und Bezüge zu Orten des Gedenkens außerhalb von Österreich finden auch Platz in dem im Rahmen von Erasmus + geförderten Projekt. So setzten sich die Schüler_innen mit Denkmälern in den Ländern auseinander, in denen ihre Wurzeln liegen.

Im Rahmen des Projekts fand eine intensive Auseinandersetzung mit Erinnerungskulturen in verschiedenen Ländern statt

Einen besonderen Eindruck hinterließ auch eine Reise nach Berlin, die im Rahmen dieses umfangreichen Projekts durchgeführt wurde. Hier tauschten sich die Schülerinnen der BAfEP Ettenreichgasse mit anderen Jugendlichen aus, besuchten verschiedene Erinnerungsorte in Berlin und sprachen mit Menschen, die aus Syrien flüchten mussten. Mit viel Sensibilität spricht eine der Teilnehmer:innen von der Schwierigkeit, Parallelen zur NS-Geschichte zu ziehen und der gleichzeitigen Notwendigkeit, historische Erfahrungen mit gegenwärtigen Entwicklungen in Verbindung zu setzen. Die Reise nach Berlin und generell die Arbeit am Projekt habe ihr gezeigt, dass „Geschichte überall ist“ und ihr geholfen, Dinge besser zu verstehen. Der Höhepunkt der Berlin-Reise – da sind sich alle einig – war jedoch das Zusammentreffen mit dem 1933 geborenen Zeitzeugen Kurt Hillmann, der ihnen seinen Wunsch an die Jugend anvertraut: weniger wollen, mehr tun. Die Schüler:innen und Lehrer:innen aus der BAfEP Ettenreichgasse haben sich das zu Herzen genommen und so vieles getan, um die Erinnerung an die Opfer der NS-Herrschaft wach zu halten, sie mit konkreten Orten und Lebensgeschichten zu verbinden und sie viele Menschen, die in Favoriten und anderswo leben, zugänglich zu machen.

Einen Höhepunkt des Projekts stellte die Reise nach Berlin und das Treffen mit dem Zeitzeugen Kurt Hillmann dar


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