Gefährdete historische 
Gedächtnisse in Russland

Juden, die sich in der Roten Armee oder in den besetzten Teilen der Sowjetunion im Partisanenkrieg gegen die Wehrmacht engagierten, werden bis heute kaum gewürdigt – und ihre Geschichte ist bis heute in Russland und den GUS-Staaten umstritten.

Aus einem Artikel von Regula Heusser-Markun in: Tachles. Das jüdische Wochenmagazin, 20. Dezember 2013:


Um die Korrektur verzerrter Geschichtsbilder kümmern sich posttotalitäre Gesellschaften mit didaktischem Impetus. Der Neuanfang, wie er in Russland und den GUS-Staaten seit mehr als 20 Jahren geprobt wird, 
hat einen Streit zwischen den historischen Gedächtnissen ausgelöst. Es wurden Mythen als ideologische Kopfgeburten dekonstruiert, Denkmäler gestürzt, welche die halbherzige Entstalinisierung der Chruschtschow-Ära überlebt hatten, die zwar den Personenkult, nicht aber den Kontroll- und Repressionsstaat als System ins Visier nahm...

Echtes Erinnern und Manipulation

In der offiziellen Darstellung waren es «Sowjetbürger», die «von den Nazifaschisten» Ende September 1941 bei Kiew, in der Schlucht Babij Jar, exekutiert wurden. Dass die Opfer Juden waren, dass über zwei Drittel der Ausführenden der Massenmorde – an 34 000, dann an weiteren 20 000 Zivilpersonen – mit der Wehrmacht kooperierende Ukrainer waren, wurde lange unterschlagen...
Woran genau wird erinnert, wenn in Russland das Kriegsende gefeiert wird? Gilt der 1965 eingeführte «Tag des Sieges» auch den Millionen von Opfern, auch den gefallenen und ermordeten sowjetischen Juden? Oder ist es ein Tag, der Vergangenes vergangen sein lässt, mit dem die Staatsmacht und viele Patrioten alten und neuen Zuschnitts implizit den Generalissimus ehren? Schliesslich haben die wachsenden nationalrussischen Kräfte in der Duma auch durchgesetzt, dass 2004 der «Tag der Einheit des Volkes» wieder als gesetzlicher Feiertag etabliert wurde. Es ist der 4. November, der Tag der Befreiung Russlands von den polnischen Besatzern im Jahr 1612 (!). Gestrichen wurde aus dem Festkalender gleichzeitig ein weit jüngerer Gedenktag: Der 12. Dezember, an dem seit 1993 die erste russische Verfassung gewürdigt wurde, die durch Volksabstimmung approbiert worden war.

Geschichte, die nicht vergeht
Dass die Geschichte gerade der sowjetischen Juden im Kontext der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts lange Zeit pauschal ad acta gelegt worden war, hat auch mit dem Kalten Krieg zu tun. Hitlers Krieg im Osten war nicht nur propagandistisch dagegen gerichtet, was er den «jüdischen Bolschewismus» nannte. Jene Juden, die sich in der Roten Armee oder in den besetzten Teilen der Sowjetunion im Partisanenkrieg gegen die Wehrmacht engagierten, werden kaum gewürdigt. Dabei dienten in den sowjetischen Streitkräften 501 000 Juden, davon ein Drittel als Offiziere. 198 000 jüdische Kriegsteilnehmer kamen um. Jüdische Partisanen werden auf 17 500 geschätzt. Von diesen Zahlen und dem Narrativ der aktiv gegen den Faschismus kämpfenden Juden geht Alexander Kogan aus, der in Yad Va­shem Kurse für junge Israeli mit russischen Wurzeln gibt – zur Festigung des jüdischen Selbstbewusstseins russischsprachiger Soldaten. Bewahrt werden soll auch ein Stück Geschichte. Diesen Februar widmete sich erstmals in Israel eine Tagung der Darstellung der Juden, des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust in der Literatur und im Film der Sowjetzeit. Immerhin lebte die Hälfte der im Zweiten Weltkrieg umgekommenen Juden im russischsprachigen Raum. Mit der Veranstaltung, an der sich Referenten aus vielen Universitäten der Welt engagierten, so die Ankündigung, wolle man nicht «den üblichen Blumenstrauss auf die Gräber der Toten» legen. Ein schönes Bild für – oder vielmehr gegen – eine voreilige Historisierung. - link