Rückblick: Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenseminar 2025 – 80 Jahre (Zeit)zeugenschaft

Am 9. und 10. März 2025 fand das jährliche Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenseminar in Wien statt, die österreichweit größte Fortbildung für Lehrpersonen zu den Themen Zeitzeugenarbeit und Lernen aus und mit Lebensgeschichten. Anlässlich des 80-jährigen Jubiläums des Kriegsendes widmete sich das Seminar der Rückschau auf 80 Jahre (Zeit)zeugenschaft sowie anknüpfenden Zukunftsfragen, über die Sie im folgenden Seminarbericht lesen und in Audio-Beiträgen hören können. Zum Vormerken: Das nächste Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenseminar findet am 8. und 9. März 2026 in Wien statt.

Mehr als 80 Personen aus ganz Österreich – vor allem Lehrpersonen – nahmen im März 2025 am traditionsreichen Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenseminar von ERINNERN:AT in Wien teil. Die Veranstaltung, die seit den 1970er-Jahren jährlich stattfindet, gilt als größte Fortbildung für Lehrpersonen zur Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenarbeit in Österreich. Im Zentrum des zweitägigen Seminars standen theoretische und praxisorientierte Impulse zum Lernen mit und aus Lebensgeschichten sowie der direkte Austausch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Die teilnehmenden Lehrkräfte erhielten die Gelegenheit, jene Personen kennenzulernen, die über das OeAD-Programm ERINNERN:AT für Schulgespräche angefragt werden können.

80 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus widmete sich die Veranstaltung sowohl der Rückschau als auch aktuellen und zukünftigen Fragen des Lehrens und Lernens mit Zeitzeugenerzählungen. Da nur noch wenige Überlebende der NS-Verfolgung persönlich über ihre Erfahrungen berichten können, kommt der Geschichtsforschung und -vermittlung eine besondere Verantwortung zu: Sie bewahrt die wertvollen Erinnerungen der Betroffenen und setzt sich zugleich sensibel mit den Chancen und Herausforderungen auseinander, die diese Erzählungen für die Bildungsarbeit mit sich bringen.


Reflexiver Einstieg: Warum lade ich Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in den Unterricht ein?

Der Einstieg in das Seminar 2025 erfolgte über einen Austausch zu den eigenen Erfahrungen und den Beweggründen für und Erwartungen an Zeitzeugengespräche im Unterricht: Was sind meine Intentionen? Wenn ich schon Erfahrungen mitbringe zu diesen Settings: Was war positiv oder auch schwierig? Fragen, die von den Tischgruppen ins Plenum eingebracht wurden, lauteten zum Beispiel: Wie kann ein Zeitzeugen-Besuch die SchülerInnen in ihrer Lebensrealität erreichen und für die politischen Entwicklungen nachhaltig sensibilisieren? Wie kann ich im Vorfeld vermeiden, dass es zu schwierigen Situationen (z.B. antisemitische, rassistischen Aussagen) kommt? Wie kann mit heterogenen Lerngruppen gut gearbeitet werden? Wie kann zugleich ein emotionaler und persönlicher Zugang und Quellenkritik umgesetzt werden? Wie sieht die Zeitzeugenschaft der Zukunft aus?


Vortrag: Ein pädagogischer Streifzug durch die Geschichte der Zeitzeugenschaft

Es folgte ein Impulsvortrag von Maria Ecker-Angerer zur Geschichte der Zeitzeugenschaft aus pädagogischer Perspektive. Nach einem Rückblick auf frühe Interviewprojekte, z.B. von David P. Boder (1946) oder die seit den 1990er-Jahren durchgeführten Videoaufzeichnungen der USC Shoah Foundation, griff Ecker-Angerer auch aktuelle Entwicklungen auf, wie beispielsweise interaktive digitale Zeugnisse in Form von Hologrammen. Anknüpfend wurden reflexive Fragen an die Teilnehmenden gestellt, um die individuellen Bilder und Vorerfahrungen der Teilnehmenden im Hinblick auf Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie deren Erzählungen zu ergründen: Wann haben Sie erstmals (medial) eine Erzählung eines Zeitzeugen oder einer Zeitzeugin gehört oder gesehen? Wie alt waren Sie, als Sie erstmals einem Zeitzeugen oder einer Zeitzeugin persönlich begegnet sind?  Maria Ecker-Angerer zeigte auf, wie sich die Zeitzeugenforschung und die pädagogische Arbeit mit Zeitzeugenschaft – zwei eng miteinander verknüpfte Felder – im Laufe der Jahre verändert haben: etwa hinsichtlich des Alters und Erfahrungshintergrunds der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, der Interviewtechniken, der Erzählformen (von „bruchstückhaft“ zu „geschliffen“), ihres gesellschaftlichen Status, der Erwartungen von außen, des zunehmenden Einsatzes im Bildungsbereich und nicht zuletzt der technologischen Entwicklungen.

Besonders betonte Ecker-Angerer das dialogische Prinzip, das auch in Zukunft gestärkt werden sollte. Es braucht dafür einen kommunikativen Rahmen, der Gespräche ermöglicht – etwa durch angemessene Zeit, passende Raumanordnung und eine offene Atmosphäre. Wesentlich ist zudem ein ausgewogenes Zusammenspiel von Zuhören, Fragen, Erzählen und Antworten. Eine sorgfältige Vorbereitung auf die Begegnung und eine Nachbereitung sorgen dafür, dass Fragen bearbeitet und Reflexion angeregt werden. Ziel ist es, dass es in der Begegnung „funkt“, dass sie atmosphärisch spürbar wird und beim Gegenüber etwas in Bewegung bringt. Im Gegensatz dazu erzeugen technologische Formate wie Hologramme zwar ein Gefühl von Präsenz oder Beteiligung, doch es bleibt – so Ecker-Angerer – eine Begegnung ohne echtes Gegenüber. Sie schloss ihren Vortrag mit folgenden Gedanken: Wir können Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der „Ersten Generation“ sehr bald nicht mehr begegnen. Das gelte es anzunehmen. Maria Ecker-Angerer plädierte daher für die sorgfältige Aufbereitung und Nutzung der zahlreichen bereits existierenden Aufzeichnungen und Medienformate. Gleichzeitig sprach sie sich für die Fortführung „echter“ Gespräche aus – etwa mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der „Zweiten Generation“ – und warb für eine grundsätzlich offene Haltung gegenüber neuen Möglichkeiten, ohne sich dabei von technischen Entwicklungen unter Druck setzen zu lassen.


Buchvorstellung: der neue Nationalfonds Band „Erinnerungen – Flucht nach Palästina/Leben in Israel“

Michaela Niklas (Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus) stellte den neuen Band der Reihe „Erinnerungen – Flucht nach Palästina/Leben in Israel“ vor. Der Band beinhaltet (auto-)biografische Texte von Jüdinnen und Juden aus Österreich, die während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurden und auf unterschiedlichen Fluchtrouten und unter verschiedenen Fluchtumständen, legal oder illegal, in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina gelangten bzw. in den neu gegründeten Staat Israel emigrierten. Das Buch enthält einen Gastbeitrag von Helga Embacher, die darin einen Bogen von der Geschichte der Region ab dem Ende des 19. Jahrhunderts über die Ereignisse bis zur Ausrufung des Staates Israel und den darauffolgenden Unabhängigkeitskrieg bis hin zur Lebenssituation der neu Angekommenen und zur aktuellen Situation der Überlebenden und ihrer Familien in Israel spannt. Der Band enthält zudem ein umfassendes historisches Glossar und ist mit zahlreichen historischen und aktuellen Fotos und Dokumenten sowie mit Grafiken zu den Flucht- und Exilrouten illustriert.


Workshops zu lebensgeschichtlichen Lernmaterialien

Vier Workshops widmeten sich anschließend konkreten Lernmaterialien zum Lehren und Lernen mit Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenerzählungen der NS-Verfolgung.

In Workshop 1 stellte Helen Kaufman (PH St. Gallen) digitale Lernangebote der deutsch-österreichisch-schweizerischen IWitness-Webseite LEBENSGESCHICHTEN vor. Mit diesem kostenlosen, webbasierten Tool können SchülerInnen u.a. ihre eigenen Kurzfilme mit Ausschnitten von Zeitzeuginnen- und Zeitzeugeninterviews aus dem Visual History Archive erstellen.

In Workshop 2 stellten Christian Angerer und Julia Mayr (beide ERINNERN:AT Netzwerk Oberösterreich) zwei Unterrichtsmaterialien zum KZ Mauthausen-Gusen und zu dessen Befreiung vor. Illustrierte Biografien regen dazu an, sich mit Häftlingen, Bystandern und Tätern auseinanderzusetzen. Weitere Aufgaben thematisieren historische Zusammenhänge und individuelle Verantwortung (siehe Lebenswege nach Mauthausen). Das Unterrichtsmaterial Anstoß Gruber widmet sich dem Priester und Reformpädagogen Johann Gruber, der Mithäftlinge im KZ Gusen rettete.

In Workshop 3 stellte Irmgard Bibermann (PH Tirol, ERINNERN:AT Netzwerk Tirol) die Lernwebsite „Alte Heimat-Schnitt-Neue Heimat“ vor. Die Lernwebsite widmet sich den Erzählungen von NS-Verfolgten mit Innsbrucker Wurzeln, ihrem Leben in Österreich vor 1938, Verfolgung und Flucht sowie dem Neubeginn in England und Israel. 

In Workshop 4 stellte Christian Mathies (PH Tirol, ERINNERN:AT Netzwerk Tirol) das Lernmaterial vor: „Erinnern – Erzählen – Lernen“ – Zeitzeugen und ihre Erzählungen in Vergangenheit und Gegenwart. Es nimmt die Erzählungen der Holocaust-Überlebenden Lucia Heilman und Dorli Neale in den Blick und thematisiert Entstehungshintergrund, Wandel und Zukunft der Zeitzeugenschaft.


Vortrag: Österreichische Gedächtnispolitik und Erinnerungskultur seit 1945

Eröffnet wurde der zweite Tag mit einem Vortrag von Ljiljana Radonić zur österreichischen Gedächtnispolitik und Erinnerungskultur seit 1945 im europäischen Vergleich. Der Vortrag bot einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der österreichischen Geschichtspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere über das (vor allem nach außen hin) vertretene Selbstverständnis Österreichs als erstes Opfer des Nationalsozialismus. Gleichzeitig wurde jedoch intern ein Heldengedenken gepflegt, das sich unter anderem in der Errichtung von Kriegerdenkmälern für gefallene Wehrmachtssoldaten manifestierte.

Ein Wendepunkt in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit war die sogenannte „Waldheim-Affäre“ im Jahr 1986, gefolgt vom Gedenkjahr 1988. Diese Ereignisse führten zu einer kritischeren Betrachtung österreichischer Täterinnen und Täter. Erstmals wurde auch der Antisemitismus – etwa im Zusammenhang mit dem Pogrom während des „Anschlusses“ 1938 – öffentlich thematisiert.

Ähnliche Auseinandersetzungen mit der eigenen NS-Vergangenheit fanden zu dieser Zeit auch in anderen europäischen Ländern statt. Dennoch verlief die Aufarbeitung in Österreich keineswegs geradlinig: So griff etwa die ÖVP-FPÖ-Regierung der Jahre 2000 bis 2005 erneut auf den alten Opfermythos zurück und stellte damit Rückschritte in der erinnerungspolitischen Entwicklung dar.

Hier können Sie den Vortrag von Ljiljana Radonić nachhören, Moderation: Patrick Siegele (Credits: Audio-Beitrag: OeAD, Titelfolie: Ljiljana Radonić):


Podiumsgespräch mit Milli Segal, Siegfried Loewe und Elisabeth Ganglberger

Nach dem Vortrag wurde das Thema der österreichischen Gedächtnispolitik und Erinnerungskultur in einem moderierten Gespräch mit zwei im Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenprogramm aktiven Personen sowie einer Teilnehmerin des Pilotprojekts mit Nachkommen von NS-Verfolgten vertieft. Die Gesprächsteilnehmenden teilten eindrucksvolle persönliche Erinnerungen an das Leben im Nachkriegsösterreich – darunter Erfahrungen mit der Rückkehr aus dem Exil, mit dem damaligen Schulalltag sowie Reflexionen über den gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus, damals wie heute. Auch der Wandel des historischen Bewusstseins in Bildungseinrichtungen kam zur Sprache.

Besonderes Gewicht erhielten die aktuellen Erfahrungen der Zeitzeuginnen und Nachkommen im schulischen Kontext. Diese wurden von allen Beteiligten als durchwegs positiv geschildert – geprägt von großem Interesse seitens der SchülerInnen sowie einer offenen und respektvollen Atmosphäre. Das Gespräch machte deutlich, wie wertvoll persönliche Erzählungen im Unterricht sein können für eine vertiefte Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Verantwortung in der Gegenwart.

Nachhören des Podiumsgespräch: (Familien-)Erinnerungen an Befreiung, Nachkriegszeit und österreichische Gedächtniskultur und -politik (Credits: Audio-Beitrag: OeAD, Foto: OeAD/APA-Fotoservice/Rastegar):


Feierliche Eröffnung und Einstieg in die Erzählcafés

Nach Eröffnung und Begrüßung der eingeladenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen durch OeAD-Abteilungsleiterin Sirikit Amann, Anna-Katharina Obenhuber, Leiterin der Abteilung I/10 (Grundsatzabteilung und überfachliche Kompetenzen, Schulpartnerschaft, ganztägige Schulformen) im Bundesministerium für Bildung, sowie Hannah Lessing (Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus) fanden – wie jedes Jahr – moderierte Gesprächskreise in Form sogenannter „Erzählcafés“ statt. Die Seminarteilnehmenden hatten die Möglichkeit, an den Gesprächen mit jeweils zwei Zeitzeuginnen oder Zeitzeugen teilzunehmen und deren Lebensgeschichten kennenzulernen. In diesem Jahr durfte ERINNERN:AT acht Zeitzeuginnen und Zeitzeugen beim Seminar willkommen heißen. Eine Übersicht über jene Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die aktuell über ERINNERN:AT von österreichischen Schulen für Schulgespräche angefragt werden können, finden Sie hier.  

Monika Feldner-Zimmermann und Astrid Plank (Ö1) gestalteten – auf Basis von Aufnahmen während des Seminars sowie eines anschließenden Schulbesuchs mit Katja Sturm-Schnabl – die Radiosendung „Als Kind von Nazis verfolgt: Zeitzeugen erzählen“, die hier nachgehört werden kann (Credits: Audio-Beitrag: ORF/Feldner-Zimmermann/Plank, Bild: OeAD/APA-Fotoservice/Rastegar):


Feedback von Teilnehmenden des Seminars 2025


"Für mich persönlich war das Seminar eine wichtige Erfahrung, die auch eine Bereicherung für meine berufliche Praxis sein wird."

"Seit 20 Jahren sind das Zentrale-Seminar und das Zeitzeugenseminar für mich die qualitativ besten Fortbildungen, die auch einen intensiven informellen Austausch ermöglichen, chapeau!"

"Weiterhin die sehr gelungene Verbindung von Fachwissenschaft, Didaktik und Praxis beibehalten."


Das nächste Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenseminar: 8. und 9. März 2026 in Wien: 
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