Michail Krausnick, Lukas Ruegenberg: Elses Geschichte. Ein Mädchen überlebt Auschwitz; Patmos Verlag, Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2007; 72 S.

"Elses Geschichte" basiert auf dem Schicksal der damals 8-jährigen Else Schmidt. Ihren Hamburger Pflegeeltern entrissen, wird sie in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt. Als "Zigeunerkind" erfasst und abgestempelt, ist sie der Rassenpolitik der Nationalsozialisten schutzlos ausgeliefert. Nur dem couragierten Kampf ihres Pflegevaters Emil Matulat ist es zu verdanken, dass Else der Mordmaschinerie im letzten Moment entkommen kann.(http://www.elses-geschichte.de/)

Rezensionen:

23.01.2008

Kinder im Vernichtungslager Auschwitz kurz nach der Befreiung durch die sowjetische Armee im Januar 1945 (Bild: AP Archiv)

Ein Kind im KZ

Kann man ein Kinderbuch über Auschwitz schreiben? Kann man einem Kind von neun Jahren das Schicksal einer von den Nazis verfolgten Altersgenossin vermitteln, ohne entweder zu verharmlosen oder Schaden anzurichten? Es ist auf jeden Fall ein großes Wagnis. Der Autor Michael Krausnick und der Illustrator Lukas Ruegenberg haben dieses Wagnis mit "Elses Geschichte" unternommen - die wahre Geschichte über ein Roma-Kind im Konzentrationslager.

"Zwei Männer in langen Ledermänteln haben Else aus der Wohnung abgeholt, morgens ganz früh, als es noch dunkel war. Else hatte keine Ahnung, was das für Männer waren. Irgendwas mit 'geheim' und 'Polizei' wurde geflüstert. Was wollten sie von ihr? Sie hatte doch nichts ausgefressen?"

Else weiß nicht, wie ihr geschieht. Ihre Eltern sind Roma und haben sie als Baby in eine Pflegefamilie gegeben. Doch davon ahnt Else nichts. Sie ist ein ganz normales Mädchen bei einer ganz normalen deutschen Familie, aus der sie eines Tages herausgerissen und in ein Konzentrationslager verschleppt wird. Was ihr dort begegnet, ist erwachsenen Lesern hinreichend bekannt, und doch ist es neu und aufwühlend, Elses Geschichte zu lesen. Kann ich dieses Buch wirklich einem neunjährigen Kind - die Altersempfehlung des Verlages - in die Hand geben? Ich versuche es. Aber ich wähle nicht irgendein Kind. Hannah ist neun Jahre alt, sie hat einen breiten Lesehintergrund, ein Interesse für die Geschichte und die Möglichkeit, sich mit Erwachsenen auszutauschen.

"Ich hab das mit meiner Mutter gelesen, und ich hatte auch oft Fragen dazu, dann hat sie mir was darüber erzählt. Ich glaub, man braucht einen Erwachsenen, den man dann so Sachen fragen kann, der auch Bescheid weiß, und ich würd es jetzt nicht so alleine lesen."

Das Buch gibt keine Antworten auf das große Warum? Es erzählt einfach. Es erzählt von Elses Ankunft im Konzentrationslager, von gebrüllten Befehlen und von Heimweh, von todkranken, ausgehungerten Menschen, von tätowierten Nummern und einem Berg von verbrannten Puppen.

"Else hatte noch nie so viele Menschen so nah beieinander gesehen. Aber waren das überhaupt Menschen? Fast allen fehlten die Haare auf dem Kopf. Einige waren so mager wie Gerippe und die Augen waren ganz tief zwischen den Knochen. Totenköpfe, lauter lebendige Totenköpfe. 'IchhabDurstIchhabDurstIchhabDurstIchhabDurst', wimmerte ein glatzköpfiges Mädchen. Sie hatte fiebrige Augen und einen traurigen Blick. Bestimmt war sie sehr krank. War hier überhaupt einer gesund? Was war das hier bloß? War das ein Gefängnis, war das eine Krankenstadt? Die meisten nannten es einfach nur KZ. Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau."

Else begegnet auch freundlichen Menschen, die sich um sie kümmern. Wanda, ein Kapo, nimmt sich des Mädchens an und ersetzt ihr für eine Zeit die Mutter. Aber auch Wanda kann Else und auch dem Leser nicht ersparen, dass das Töten und Sterben im Lager trotzdem weitergeht.

"Ich fand es ganz schlimm für die Leute, die da verbrannt wurden in diesen riesigen Häusern mit den Schornsteinen und ich fand das so schrecklich, ich wusste nicht, wie man so was mit Menschen machen konnte. Menschen sind ja auch was besonderes, man kann die ja nicht einfach so verbrennen."

Hannah und Else sind gleichermaßen fassungslos. Schritt für Schritt baut sich das Geschehen auf, beginnt Else zu verstehen, wo sie sich befindet und dass ihr Leben an einem seidenen Faden hängt. Hannah muss ich unterdessen parallel in Elses Erlebnissen nachdem KZ zurechtfinden. Denn immer wieder gibt es Einwürfe in der Erzählung, in kursiver Schrift, die davon erzählen, wie es Else nach ihrer Befreiung durch ihren Pflegevater ergangen ist. Dieser Kunstgriff ist für die jungen Leser zunächst schwer zu durchschauen.

"Ich fand's erstmal bisschen verwirrend, weil ja erst von der Zeit erzählt wurde, wo sie da in dem Konzentrationslager war, und dann wieder von der Zeit danach, und da war man erstmal bisschen verwirrt, was jetzt auf einmal los ist. Wenn man das dann einmal begriffen hat, dann versteht man das auch."

"'Schnell, schnell, Else, trödel nicht herum', rief die Lehrerin Jahre später bei einem Schulausflug. Wie angewurzelt war die inzwischen zwölfjährige Else plötzlich stehen geblieben. Kalter Schweiß lief ihr den Nacken herunter. 'Ich kann nicht, ich kann nicht', schluchzte sie. Irgendjemand hatte das Wort 'Kopfsteinpflaster' gebraucht. Kopf-Sein-Pflaster. Und mit einem Mal hatte sich jeder Stein vor ihren Füßen in einen Totenkopf verwandelt. Ihre Beine waren wie gelähmt. Ein Krankenwagen kam, und Sanitäter mussten sie nach Hause bringen."

So erfährt der Leser nicht nur die Geschehnisse im KZ, sondern gleichzeitig die Folgen der tiefen seelischen und körperlichen Verletzungen. Elses Angst vor Schäferhunden, die Alpträume von Leichen und Totenschädeln - und am schlimmsten: Das doppelte Redeverbot.

"Behalt das für dich, Else - behalt das für dich!"

"Sie musste ja unterschreiben, dass sie das alles nicht erzählen durfte, was der da passiert war, und manchmal konnte sie nicht mehr, dann musste sie es jemandem erzählen, und dann haben die immer gesagt, sie würde lügen und das hätte sie sich alles ausgedacht."

Deshalb ist es ein Glück, dass der Autor Michal Krausnick Elses Gesichte heute erzählt. Gegen das Vergessen und für die Kinder von gestern und heute.

Rezensiert von Maria Riederer

Else Schmidt ist heute über siebzig Jahre alt und lebt in England. Sie wurde 1943 von den Nazis als 8-jährige „Halbzigeunerin" inhaftiert und deportiert. Else überlebte den mörderischen Transport, die Monate in den KZs Auschwitz und Ravensbrück, das ständig von Mord und Vernichtung bedrohte Dasein in den Todeslagern.

Else wächst als Pflegekind in einer Arbeiterfamilie am Rande von Hamburg auf. Es ist Krieg, trotzdem gehen Else und ihre Freundinnen zur Schule und versuchen ein normales Leben zu führen. Else weiß nicht, dass sie nicht das leibliche Kind ihrer Eltern ist, und noch viel weniger kann sie wissen, dass sie von den Nazis als „Zigeunermischling" klassifiziert ist. Erst später erfährt sie, dass ihre leibliche Mutter eine so genannte „Halbzigeunerin" war.
In einer Frühjahrsnacht 1943 ändert sich für das achtjährige Mädchen alles: Sie wird von zwei Männern in langen Ledermänteln abgeholt, zum Hamburger Hafen, einer Sammelstelle für die Sinti- und Roma- Familien gebracht, und dann nach Auschwitz deportiert.
Ihr Vater unternimmt alles, um Else zurückzuholen. Es gelingt ihm, sie aus Ravensbrück, wohin Else inzwischen verschleppt war, frei zu bekommen und rettet sie damit vor dem sicheren Tod.
Mit der Unterstützung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg entstand das Buch „Elses Geschichte". Durch die Zeitzeugenberichte, die das Zentrum sammelt und dokumentiert, wurde Lukas Ruegenberg auf das Schicksal Else Schmidts aufmerksam und gab den Anstoß zu diesem Buch. Michail Krausnick hat Elses Bericht kind- und jugendgemäß, in schlichter und eindringlicher Sprache, nacherzählt.
„Elses Geschichte steht für ein einzelnes, unverwechselbares Verfolgungsschicksal. Doch sie macht zugleich das historisch Einmalige und Beispiellose des Völkermords an den Sinti und Roma deutlich. Elses Beispiel zeigt, wie total und unerbittlich der Vernichtungswille der Nationalsozialisten gegenüber unserer Minderheit war. Nicht einmal ein achtjähriges Pflegekind wie Else, das in einer ‚arischen' Familie aufgewachsen war und von seiner Herkunft überhaupt nichts wusste, blieb verschont", Romani Rose im Nachwort.

Ein bedrückendes, ernsthaftes und zugleich wichtiges Kinderbuch, das aus der Perspektive des Kindes die traumatische Vergangenheit nachfühlbar macht, und mit Lukas Ruegenbergs spröden Federzeichnungen und aquarellierten Großbildern zeigt, was damals möglich war. Ein Buch gegen das Vergessen und für die Kinder von gestern und heute. Ein Zeitzeugnis für junge Leser - in einfachen Worten erzählt, anrührend illustriert. Als Lektüre in Schulen ab der 4. Klasse zu empfehlen.

„Welt am Sonntag" - Kinderbuch des Monats Juli 2007
DeutschlandRadio - Bestenliste Oktober 2007

Umfangreiche pädagogische Materialien zu dem Buch unter http://www.elses-geschite.de
Jasmin Rahimi-Laridjani hat die Geschichte für das Kinder- und Jugendtheater frei nachempfunden und für die Werkraumtheater Walldorf (http://www.werkraumtheater-walldorf.de) dramatisiert
Informationen zum Völkermord an den Sinti und Roma unter http://www.sintiundroma.de

 

Altersangabe, Hinweise und Anmerkungen:

 

Es handelt sich um ein Buch mit durchgehendem Text, einigen Schwarz-Weiß- Zeichnungen und bunten Aquarellzeichnungen. Bei den Schwarz-Weiß-Zeichnungen handelt es sich um sachliche, reduzierte Darstellungen. Die Aquarelle sind in pastelligen Farben gehalten und lassen bei näherer Betrachtung tiefere Einblicke zu, die zum Nachfragen anregen könnten.

 

Der Verlag empfiehlt das Buch ab 9 Jahren. Der Inhalt und Erzählstil ist so gehalten, dass wir diese Empfehlung bestätigen können.

 

In diesem Buch werden immer wieder konkrete Daten angegeben und damit die Verknüpfung zu historischen Ereignissen hergestellt. Es werden jedoch des Öfteren Ausdrücke wie z.B.: „Konzentrationslager“, „Rassenwahn der Nationalsozialisten (S.5) verwendet ohne diese zu erklären. Eine Begriffsklärung im Anhang wäre hilfsreich, bzw. sollte diese von der Lehrkraft zur Verfügung gestellt werden.

(Anmerkung d. Vef.: Aussagen aus der Kinder- und Erwachsenenperspektive sind nicht durchgehend altersadäquat zuzuordnen und vermischen sich manchmal. So werden Gedanken in den Kindermund gelegt, die nur schwer vorstellbar altersgemäß sein können (z.B. ... „vielleicht hatte man sie daheim schon ausradiert“. )

 

Päd. Hinweise aus der Holocaust-Education werden in diesem Buch weitestgehend berücksichtigt (z.B. Leben vor und nach dem Holocaust, Überleben der Protagonistin, Empathie erzeugende Handlung mit einem gleichaltrigen Mädchen,...). Aus diesem Grund kann es für den Einsatz in der Volksschule empfohlen werden, nicht zuletzt auch, weil es als einziges Buch für diese Altersklasse die Geschichte eines Roma-Mädchens nacherzählt.

 

 

Internetpräsentation zum Buch mit Hintergrundinformationen und Materialien
(zum Betrachten wird ein Flash-Player benötigt) http://www.elses-geschichte.de/buch/index.html