Drei Artikel zum Antisemitismus im Wandel der Zeit

Patrick Siegele von _erinnern.at_ hat drei Beiträge für das Gaismair-Jahrbuch 2023 zu den Themen Antisemitismus und Rassismus, Antizionismus sowie Corona-Verschwörungserzählungen zusammengestellt.

In seiner Einleitung schreibt Patrick Siegele:

 

„Vor Antisemitismus aber ist man nur noch auf dem Mond sicher“ schrieb die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt 1941 in einem Artikel für die jüdischen Zeitschrift Aufbau. In zugespitzter Form bringt sie damit zum Ausdruck, was in der Wissenschaft vielfach belegt ist: Der Antisemitismus – die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden – ist nicht nur ein omnipräsentes und jahrhundertealtes Phänomen, sondern auch extrem wandelbar. Abhängig von den politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Machtverhältnissen hat die nicht-jüdische Mehrheit immer wieder Vorwände gefunden, Juden die Schuld an Missständen und Krisen zu geben. Für die Betroffenen hatte und hat dies verheerende Folgen: Immer wieder kam es zum Entzug von Bürgerrechten, zu Verfolgungen und Vertreibungen, zu Gewalt in Form von Pogromen, und schließlich mit dem Holocaust, dem Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden, zum größten und folgenreichsten Genozid der Menschheitsgeschichte.

Da es beim Antisemitismus nie um tatsächliche Eigenschaften von Jüdinnen und Juden oder um deren Verhalten geht, hat die IHRA – die International Holocaust Remembrance Alliance – Antisemitismus folgendermaßen definiert: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann.“

Der Antisemitismus „funktioniert“ auch dort, wo tatsächlich oder vermeintlich keine Jüdinnen und Juden leben. Dass dies damit zu tun hat, dass der Antisemitismus für Nicht-Juden immer eine bestimmte Funktion erfüllt, darauf geht Randi Becker in ihrem Beitrag „Moderner Antisemitismus und Rassismus – Überschneidungen und Unterschiede“ ein. So wie beim Rassismus ergeben sich auch beim Antisemitismus für die Mehrheitsgesellschaft Vorteile aus Vorurteilen, Feinbildern, aus Ausgrenzung und Gewalt: Minderheiten wird die Schuld an Missständen zugewiesen, ihre Ausgrenzung und Ausbeutung wird über die ihnen zugeschriebene Minderwertigkeit gerechtfertigt oder ihre vermeintliche Macht dient der Erklärung komplexer und verunsichernder Ereignisse. Dies sind Muster, die schon im Mittelalter funktioniert haben und bis in die Gegenwart reichen. Und: wo es durchaus Parallelen und Gemeinsamkeiten im Rassismus und Antisemitismus gibt. Dass es aber genauso viele Gründe gibt, zwischen Antisemitismus und Rassismus klar zu trennen, erklärt Becker ebenfalls in ihrem Text.

Ein signifikanter Unterschied ist etwa die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung, die in den letzten Jahren stark an Zuspruch gewonnen hat. Wie dies mit der Corona-Pandemie und den Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen zusammenhängt, beschreibt Isolde Vogel im zweiten Beitrag des Schwerpunktes zum Antisemitismus: „Verschwörung, Corona und die Erklärung allen Übels“. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Pandemie und ihre Folgen ist ein weiteres Beispiel für die Wandelbarkeit des Antisemitismus. In Zeiten von Krisen, deren Ursprung nur schwer zu fassen und zu erklären ist, suchen Menschen nach Schuldigen. Minderheiten wie die jüdische geraten dabei erneut und immer wieder in den Fokus. Wie Verschwörungserzählungen in die Breite der esellschaft hineinwirken, welche Rolle die Verharmlosung des Holocaust spielt und wie sich Antisemitismus im Umfeld von Impfgegnerinnen und -gegnern zeigt, ist ebenso Inhalt des Beitrags von Vogel.

Arnon Hampes Beitrag „Antisemitismus in postkolonial-antikapitalistischen und antizionistischen Kontexten“ geht auf ein weiteres für den Antisemitismus typisches Merkmal ein: Er ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und von der extremen Rechten bis hin zur extremen Linken wie auch in der so genannten „Mitte“ der Gesellschaft zu finden. Der „israelbezogene Antisemitismus“ – also eine Form der Judenfeindschaft, die sich ihren Weg über eine Kritik am Staat Israel bahnt – wird überwiegend von linken, pro-palästinensischen Bewegungen getragen. Sie stehen historisch immer wieder in der Gefahr antizionistisch und antisemitisch zu argumentieren. Dies geht so weit, die Politik Israels mit jener Nazi-Deutschlands gleichzusetzen oder Israel das Existenzrecht abzuerkennen. Als jüngstes Beispiel für diese globale Auseinandersetzung, die auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu heftigen Kontroversen führt, analysiert Hampe die Ereignisse rund um die documenta fifteen in Kassel.

Der Schwerpunkt „Antisemitismus – der Hass gegen Juden im Wandel der Zeit“ ist eine Kooperation von _erinnern.at_ mit der Michael-Gaismair-Gesellschaft. Er will einen Beitrag dazu leisten, Antisemitismus in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen besser zu verstehen, um diese im Alltag auch besser erkennen zu können. Denn nur wenn Antisemitismus auch als solcher erkannt und benannt wird, können Politik und Gesellschaft wirksam gegen diesen vorgehen.