„Geschichte trifft Gegenwart" – Flucht, Erinnerung und Dialog
Am 13. Oktober lud das ERINNERN:AT-Netzwerk Wien mit seiner Veranstaltung „Geschichte trifft Gegenwart – Flucht, Erinnerung und Dialog“ im Rahmen des Jahresschwerpunkts von ERINNERN:AT „80 Jahre Kriegsende. Befreiung. Neuanfang?“ zu einem Abend ein, der historische Perspektiven mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen verband.
Die Situation jüdischer Displaced Persons unmittelbar nach Kriegsende
Auch wenn das Jahr 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft markiert, erlebten die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Österreich – von ehemals Verfolgten über Bystander bis hin zu NS-Täter*innen – die Zeit ab Mai 1945 sehr unterschiedlich: Gefühle von Erleichterung bis hin zur Niederlage zeichneten das Stimmungsbild im von den Alliierten besetzten Österreich.
Die Zeithistorikerin Christine Oertel (Margarethe Schütte-Lihotzky – Zentrum) nahm in ihrem den ersten Teil des Abends formenden Vortrag jene Menschen in den Fokus, die in den ersten Nachkriegsjahren als jüdische Displaced Persons (DPs) heimatlos in Österreich gestrandet waren, oft Monate und vielleicht sogar Jahre in DP-Camps verbrachten und auf der Suche nach einem neuen Zuhause waren. Nach einem Überblick über die bundesweite Situation der DPs richtete sich der Schwerpunkt auf die Lage der Displaced Persons in Wien.
Nach dem etwa 20-minütigen Vortrag beantwortete Christine Oertel noch vertiefende Fragen von Antonia Winsauer (ERINNERN:AT-Netzwerk Wien).
In der Pause und nach der Veranstaltung gab es die Gelegenheit, die Wanderausstellung „Grenzen überwinden. Jüdische Flucht im Salzburger Hochgebirge 1947“, die in einer Kooperation des „Vereins für aktive Gedenk- und Erinnerungskultur APC (Alpine Peace Crossing“ mit der Universität Salzburg entstanden ist, zu besuchen. Sie beleuchtet die Flucht jüdischer DPs, die vor allem nach dem Pogrom im südpolnischen Kielche im Jahr 1946 ins ehemalige Täterland Österreich geflüchtet waren und mit Hilfe des Untergrundorganisation Bricha über den Krimmler Tauern (Pinzgau) ins benachbarte Italien weiterflohen, um von dort in den 1948 gegründeten Staat Israel zu gelangen.
Lebendiges Erinnern, historische Erfahrungen und aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen von Flucht und Vertreibung
Im zweiten Teil der Veranstaltung stand die Frage im Mittelpunkt, wie wir 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine aktive Erinnerungskultur lebendig halten können. In einem lebendigen Podiumsgespräch mit Expertinnen und Betroffenen wurde zudem diskutiert, wie sich das Erinnern an historische Formen von Flucht und Vertreibung sensibel in den Kontext aktueller Herausforderungen rund um Flucht und Migration einbetten lässt.
Die Diskussion beleuchtete, wie historische Erfahrungen von Vertreibung mit heutigen Fluchtbewegungen in Beziehung stehen – und welche gesellschaftlichen Lehren sich daraus ziehen lassen. Dazu sprach die Wiener Netzwerkkoordinatorin Daniela Lackner mit der Migrationsforscherin Judith Kohlenberger. Weitere Teilnehmerinnen des Panels waren Jasmine Koch vom Verein Fremde werden Freunde, einer Initiative für gesellschaftlichen Zusammenhalt und soziale Inklusion, sowie Zahra Hashimi, eine junge Frau, die 2015 aus Afghanistan nach Österreich geflüchtet ist. Ihre Stimme und Erfahrungsberichte machten eindrücklich deutlich, dass Flucht weit mehr ist als die Bewegung von einem Ort zum anderen – sie ist eine prägende Lebenserfahrung, die Biografien verändert, Identitäten formt und Gesellschaften herausfordert.
Aus den unterschiedlichen Perspektiven der Expertinnen wurde erörtert, wie wir mit der politischen Instrumentalisierung von Flucht umgehen können und welche Verbesserungen im oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Umgang mit Geflüchteten und Vertriebenen notwendig sind.
Jasmine Koch stellte die inklusiven Konzepte des Vereins Fremde werden Freunde vor, die eindrucksvoll zeigen, dass gesamtgesellschaftliche Integration vor allem durch die Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Fluchthintergrund gefördert wird.
Zahra Hashimi präsentierte ihre persönlichen und bemerkenswerten Initiativen, mit denen sie sich sowohl in Österreich als auch in Afghanistan für demokratische Teilhabe und Bildung – insbesondere für junge Mädchen und Frauen – engagiert. 2022 gründete sie die Omid Online School, um afghanischen Mädchen und Frauen, denen seit der erneuten Machtübernahme der Taliban der Zugang zu Bildung und öffentlichem Leben verwehrt ist, neue Perspektiven zu eröffnen.
Migration und demokratische Teilhabe – eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung
In Österreich leben viele Menschen mit Migrationsgeschichte, die sich von der Politik „nicht adressiert“ und „nicht ernst genommen“ fühlen. Dies wirft die Frage auf, welche Rolle das Staatsbürgerschaftsgesetz spielt und welche demokratiepolitischen Auswirkungen sich daraus ergeben. Judith Kohlenberger erläuterte im Gespräch mit Daniela Lackner, wie politische und rechtsstaatliche Rahmenbedingungen – oft geprägt von struktureller Diskriminierung – sowohl Menschen mit Fluchthintergrund als auch die Aufnahmegesellschaft beeinflussen. Sie machte deutlich, wie unsichtbare Barrieren wirken und wie stark sie Zugehörigkeit und Zukunftsperspektiven von Menschen mit Migrationsgeschichte prägen.
Der Abend wurde durch Fragen aus dem Publikum abgerundet, die die Veranstaltung zu einem lebendigen Ort des Austauschs machten. Dabei wurde die Bedeutung einer aktiven Erinnerungskultur ebenso betont wie mögliche Lösungsansätze für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen im Kontext von Flucht, Vertreibung und Migration.
Weiterführende Links:
FORM - Forschungsintitut für Flucht- und Migrationsforschung und Management
Wanderausstellung "Grenzen Überwinden - Jüdische Flucht im Salzburger Hochgebirge 1947"
