„Warum hat dieser Mann mich gerettet?“ – Anna Goldenbergs bewegendes Buch über ihre Großeltern

Eine Rezension von Martin Krist, _erinnern.at_ Wien. "Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete" von Anna Goldenberg ist im Zsolnay Verlag erschienen. Die Autorin stellt ihr Buch auch gerne in Schulen vor.

„Warum hat dieser Mann mich gerettet? Diese Frage beschäftigte Hansi sein Leben lang“, schreibt Anna Goldenberg, seine Enkelin. In ihrem Buch geht sie der Lebens- bzw. Überlebensgeschichte ihrer Großeltern mütterlicherseits nach.  Beide wachsen in Wien auf und kommen aus assimilierten jüdischen, bürgerlichen Familien.

„Im Haustor nimmt Hansi die Sakkotasche mit dem gelben Stern ab. Dann biegt er ums Eck auf die Taborstraße, steigt in die Straßenbahn und fährt zu Pepi.“ Es ist der 28. September 1942. Schon ein Jahr trägt Hansi Busztin, der Großvater von Anna Goldenberg, den „Stern“. Nun wird er ein „U-Boot“, aufgenommen, versorgt und versteckt von einem Bekannten der Familie, dem Kinderarzt Josef „Pepi“ Feldner. Seine Familie wird Hansi nie mehr wiedersehen.

Anna Goldenbergs Großmutter Helga wird ein halbes Jahr später, gemeinsam mit ihrer Schwester Elisabeth und ihrer Mutter, ins KZ Theresienstadt deportiert.

Anna Goldenberg recherchiert penibel, um ihre Familiengeschichte zu rekonstruieren. Dabei stößt sie auch auf die Täterseite, etwa auf Arisierungsakten des Geschäftes ihrer Urgroßeltern. Diese „bringen mich dem Täter nahe, sehr nahe“, schreibt sie. „Ein halbes Jahr lang fertigte er sorgfältig Listen an, durchforstete Warenlager, schrieb Briefe, errechnete Bilanzen.“ Und dann folgt ein Satz, der die Ungeheuerlichkeit dieses Vorgehens benennt: „Damit hat dieser Mensch meine Familie zerstört, und ich kann das heute nachlesen.“

Wie nahe Anna Goldenberg die Recherche zu ihrer Familie geht, kommt immer wieder zum Vorschein. Nachdem ihr Urgroßvater aus „rassischen“ Gründen seine Stelle als Polizeiarzt verliert, wird der Familie ihrer Großmutter Helga, die Wohnung im Gemeindebau gekündigt. Der Urgroßvater glaubt an ein schnelles Ende des Nazispuks und versucht mit dem Hinweis, er sei kriegsgeschädigter Frontkämpfer des 1. Weltkriegs und Polizeisanitätsrat – in Klammern setzt er „beurlaubt“ dazu –, eine Verschiebung der Kündigung zu erreichen. Die städtische Wohnhausverwaltung gewährt ihm keine Verlängerung der Räumungsfrist. Anna Goldenberg fragt sich: „Begann mein Urgroßvater jetzt zu zweifeln? (…) Schnell, füllt den ‚Auswanderungsfragebogen‘ aus und macht euch auf die Suche nach Verwandten oder Bekannten, die euch ein Affidavit ausstellen oder sonst wie helfen können, aus dem Land zu kommen, will ich ihnen zurufen.“ Und dann folgt: „Ich weiß ja, wie es weiterging.“ Ihr Urgroßvater Paul wird am 19. Oktober 1938 von der Gestapo verhaftet und ins KZ Buchenwald deportiert. Im Juni 1939 wird er entlassen, mit ausgeschlagenen Vorderzähnen und kahlrasiertem Schädel, zitternd vor Angst. „Als ihm auf dem Weg zum Bahnhof ein Windstoß den Hut vom Kopf wehte, lief er ihm weinend nach“, erinnert sich seine Tochter Helga. Zwei Tage später flüchtet er nach Genua. Dort soll ihn ein Schiff nach Shanghai weiterbringen, doch er wird betrogen, denn das Schiff existiert nicht. Bis 1944 sitzt er in Italien fest und wird dann ins KZ Auschwitz deportiert. Er überlebt, da er Arzt ist, kehrt aber nach 1945 als psychisches Wrack zurück.

Von welchen Zufällen das Überleben für Helga und Hansi abhängt, lässt einen staunen. So kommt Helga im Oktober 1944 auf eine Liste für den „Arbeitseinsatztransport“ in den Osten. Die Menschen in Theresienstadt wissen noch nichts über die Vernichtungslager, ahnen jedoch Schlimmes. Helga muss sich frühmorgens in der Halle einer der ehemaligen Theresienstädter Kasernen melden. 2000 Menschen sind dort versammelt. Sie bekommt die Transportnummer 1680 und muss lange warten. Schließlich nimmt sie ihr Gepäck von den Schultern, die Luft ist schlecht, sie hat Hunger, SS-Männer treiben die Wartenden an, und fortwährend laufen Menschen kreuz und quer, auf der Suche nach Angehörigen oder ihrem Gepäck. Gegen Abend beschließt Helga, sich aus der Halle in einen Nebenraum zu schleichen, um sich auszuruhen. Dort schläft sie ein. Als sie erwacht, sind die Deportationszüge abgefahren. Daraufhin meldet sie sich bei der Lagerverwaltung. Dort heißt es, dies sei kein Problem, denn es gibt bald einen nächsten Transport. Da wiederholt sich der Vorgang, und Helga entgeht ein weiteres Mal der Deportation. Dann gelingt es ihrer Mutter, für Helga eine Bestätigung zu erhalten, dass sie im Lager bei der Feldarbeit unersetzlich sei. Bald danach, am 28. Oktober 1944, verlässt der letzte Zug Theresienstadt Richtung Auschwitz.

Auch Hansi kommt einmal nur ganz knapp davon. Er verfügt über eine Pistole, die zuvor Pepi waghalsig einem Wehrmachtsoffizier gestohlen hat. Beide treffen Anfang 1945 in einer dunklen Winternacht auf eine Wehrmachtsstreife. Hansi läuft davon, trifft auf eine weitere Streife. Diese Soldaten wollen ihn festhalten, er reißt sich los, wird verfolgt, und Hansi zieht die Pistole und schießt. Die Soldaten feuern zurück. Aber es gelingt ihm zu entkommen. Doch während des Gerangels mit den Soldaten hat er den Wohnungsschlüssel verloren. „‚Zum ersten Mal allein ohne Pepi. Ein unbeschreibliches Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts erfasste mich.‘ Er hat Angst,“ schreibt Anna Goldenberg. Doch auch Pepi konnte entkommen, und sie finden sich wieder.

Pepi hat eine tiefgehende Beziehung zu Hansi, und er wird Hansi nach der Befreiung von der NS-Terrorherrschaft adoptieren. Anna Goldenberg spannt die Geschichte ihrer Großeltern bis in die Gegenwart. Helga geht auch im hohen Alter noch als Zeitzeugin in Schulen, Hansi hat sie leider nur mehr als Kind kennengelernt.

In der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem gibt es keinen Baum für Josef „Pepi“ Feldner. „Er hätte das unter keinen Umständen gewollt“, sagt Hansi. „das, was er getan hatte, war für ihn selbstverständlich. Und wieso sollte man ihn dafür ehren, nicht das Falsche getan zu haben?“ Ein Baum in Jerusalem könnte das nicht erklären, schreibt Anna Goldenberg und setzt fort: „Pepis Andenken lebt. Er hat sechzehn Nachfahren, in denen er tief verwurzelt ist.“

Und eine dieser Nachfahren hat sich der Aufgabe gestellt, ein Buch über ihn und ihre Großmutter zu schreiben. Es ist ein kluges und wichtiges geworden!

Eine Rezension von Martin Krist

Der Text von Martin Krist erscheint in: ZWISCHENWELT. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands. 35 Jg., Nr. 3, 2018.

Anna Goldenberg: Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2018. 192 S. € 20,60

 

Links:

Anna Goldenberg hat sich bereit erklärt, ihr Buch an Wiener Schulen vorzustellen: - Link

Leseprobe und Interview mit Anna Goldenberg: - Link

Helga Feldner-Busztin ist eine engagierte Zeitzeugin und besucht regelmäßig Schulen im Rahmen des ZeitzeugInnen-Programms von _erinnern.at_. Erfahren Sie mehr über das ZeitzeugInnen-Programm: - Link