„Wozu braucht man denn das Wissen, woher man kommt?“

Ein Interview mit Florian Grünmandl, einem Nachkommen zweiter Generation

Es ist der 16. Dezember 2024. Es ist der Tag, an dem ich Florian Grünmandl begegne und mit ihm ein Interview zu seiner Familiengeschichte führe, die er so akribisch und leidenschaftlich recherchiert hat. Ich werde danach fünf Wochen lang überlegen, wie ich dieser Akribie und der unglaublichen Ereignisse, die seiner Familie widerfahren sind, gerecht werden soll. Glücklicherweise habe ich aber von alldem an diesem Tag noch keine Ahnung.

An diesem Montag bin ich sehr nervös, ich komme gerade von einer internationalen Antisemitismus-Konferenz aus Paris zurück, bei der ich mir, um ehrlich zu sein, bei all dem geballten Wissen über Antisemitismus teilweise vorgekommen bin wie ein kleiner, deplatzierter Fisch. Diese Selbstzweifel kommen nun vor meinem Interview wieder. Kann ich es überhaupt noch? Das letzte professionelle Interview mit historischem Kontext habe ich an der Uni geführt. Ich beschließe, es einfach zu versuchen und mein Bestes zu geben.

Ich bin vorbereitet, ich habe recherchiert, ich habe mir das Hörspiel Uhersky Brod von Florian Grünmandl mehrmals angehört und einen roten Faden für mein Interview gefunden. Am Ende des Gesprächs ist der rote Faden jedoch völlig verloren gegangen, aber das Interview hat mich mitgerissen. Ich erfahre von dem diffusen Gefühl, dass „da etwas nicht stimmte“, welches in Florian Grünmandls Jugend immer irgendwie präsent war. Ich höre von den Geschichtelehrern, die ausschließlich über das Römische Reich referierten, weil sie sich nicht mit Österreichs Zeitgeschichte auseinandersetzen wollten. Ich erfahre von der Tante, die sich weigerte, bei ihrer Emigration ein italienisches Schiff zu besteigen, weil sie gerüchteweise befürchtete, dass es voller Nazis sei, die auch rund um den Globus emigrierten, um so einer gerechten Verurteilung zu entgehen. Ich finde ebenfalls heraus, dass der Großvater von Florian Grünmandl gegen Ende des Krieges in einem Zwangsarbeiterlager nahe Hall in Tirol so schwer arbeiten musste, dass er sich nie wieder gesundheitlich erholte. Und ich höre, dass Florian Grünmandl erst sehr spät ein geeignetes Setting finden konnte, um mit seinem Vater über all diese Ereignisse zu sprechen. Und schließlich erfahre ich von Chaim, den Florian Grünmandl ausfindig machte, und dessen Familie unfassbares Unrecht durch das NS-Regime widerfahren ist. Am Ende des Vormittages verlässt mich Florian Grünmandl mit dem Satz:

Jetzt müssen Sie aber eine Dramaturgie in das Ganze bringen, und das ist ganz schön viel Arbeit“.

Dieser Satz macht etwas mit mir, ich fühle mich lange Zeit mit dieser Aufgabe überfordert. Dann wird mir bewusst, dass ich der Offenheit, der Akribie und der Bereitschaft Florian Grünmandls, seine Familiengeschichte mit mir zu teilen, nur dadurch gerecht werden kann, indem ich in diesem Artikel auch meine persönlichen Gedanken, Emotionen, Zweifel und Motivationen teile.

Jugend und erstes Interesse an der Familiengeschichte

Und dann kam die Waldheim-Affäre, und da war ich schon im Gymnasium und mit Waldheim ging das eigentlich los.

Florian Grünmandl wird am 3. Mai 1965 in Innsbruck geboren und wächst in Hall in Tirol auf. Seine Familie lebt dort seit 1907. Er wohnt in einem Mehrgenerationenhaus mit Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln. Später studiert er Regie an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien. Danach ist er als Dokumentarfilmer tätig und schreibt Hörspiele. Immer wieder ist er in Kulturprogramme involviert, die sich auch mit seinem Vater beschäftigen, dem bekannten Tiroler Kabarettisten und Meister des irrwitzigen Humors Otto Grünmandl. Florian Grünmandl erzählt, nach dem Tod seines Vaters sei dessen kreatives Erbe ein wenig in Vergessenheit geraten und er habe deshalb den künstlerischen Nachlass an das Brennerarchiv weitergegeben. 2024, zum 100. Geburtstag Otto Grünmandls, gab es mehrere künstlerische Interventionen und Ausstellungen zur Erinnerung an ihn, die auch durch das Brennerarchiv unterstützt wurden.

Florian Grünmandls Großvater Alfred verlässt 1907 Uhersky Brod, ein Ort in den damaligen böhmischen Gebieten der K&K Monarchie. Er gründet 1917 ein Textilhandelsunternehmen in Hall in Tirol, wo er zuvor auch seine Frau Christine kennenlernt, die ursprünglich aus Petztenkirchen in NÖ stammt. Dieses Geschäft wurde gleich nach dem Anschluss 1938 enteignet, konnte aber von der Familie in einem langwierigen Prozess noch im Jahr 1947 während der französischen Besatzung zurückerstritten werden.

Natürlich möchte ich wissen, wie es schließlich zum Interesse an der Geschichte der Familie kam. Es begann mit dem Nachnamen der Familie, der in Tirol eher unauffällig und unter TirolerInnen die Bezeichnung für „einen kleinen grünen Mann“ wäre. Dass in seinem Nachnamen ein jüdischer Kontext verborgen liegt, war Florian Grünmandl lange Zeit nicht bewusst. Aber dass er im katholischen Tirol – ein Katholizismus, der auch antisemitisch geprägt war – evangelisch getauft wurde, war für ihn eine Ausnahmeerscheinung, die ihn beschäftigte. Alfred Grünmandl war Jude, und Christine und Alfred Grünmandl ließen sich evangelisch taufen, um heiraten zu können. Später kamen durch die sogenannte „Waldheim-Affaire“ Fragen über den Nationalsozialismus auch verstärkt in der Schule auf. Peu-à-peux stellten sich die Jugendlichen mehr und mehr Fragen, auch Florian Grünmandl. Es gab Verwandtschaft, die nicht in Österreich lebte, z.B. die Tante Betty in Australien oder ein Cousin des Vaters in New York.

„[…] und dann war halt auch die Frage: Ja, wie kommen die so weit weg? Also warum? Was ist da passiert? Und dann gab’s da auch, weil diese Schwester (Anm.: die Schwester des Vaters) immer wieder in Tirol war, die Möglichkeit für mich zu fragen, was die da alle eigentlich so machen.

Mit seinem Vater kann Florian Grünmandl lange nicht über die Familiengeschichte sprechen. Erst als er im Zuge seines Regiestudiums ein Portrait über den Vater produziert, finden beide in diesem vermeintlich beruflichen Setting die nötige Distanz. Er sagt dazu:

Dann war’s für mich plötzlich möglich, Fragen zu stellen. Dann konnte er das plötzlich machen und ich wusste auch, dass das die einzige Möglichkeit war, um mit ihm da länger und ausführlicher reden zu können. […] So etwas bespricht man nicht bei Kaffee und Kuchen.

Trotzdem gibt es Tabus in diesen Gesprächen, die er seinem Vater auch zugesteht. Das Hauptproblem sind für Grünmandl die innerfamiliären Traumata, weil Gefühle mit dem Erzählen verbunden werden. Wenn man den größeren geschichtlichen Zusammenhang sehen will, muss man ein Stück weit eine analytische Distanz gewinnen. Er reist dann mit seinem Vater nach Melbourne, wo er Exil-WienerInnen kennen lernt, deren Gespräche untereinander er nicht ganz einordnen kann. Sie irritieren ihn, machen ihn aber auch neugierig. Er trifft die Mutter eines jungen Australiers, die aus Wien geflüchtet ist und sich weigert, je wieder Deutsch zu sprechen, so tief ist ihre Traumatisierung durch das NS-Regime und ihre Verachtung für die NationalsozialistInnen. Immer wieder gibt es danach kleine Ereignisse, die Florian Grünmandl zum Recherchieren bewegen.

Die „verschüttete“ Geschichte des böhmischen Zweigs der Familie

Aber ich hatte noch die Möglichkeit, der Chaim, der jetzt 90 ist, mit einem Menschen zu reden, der unmittelbar betroffen, also anders betroffen war von der Verfolgung, und dann noch dazu noch sehr viel wusste.

Grünmandls Großvater Alfred stirbt in den 1950er Jahren. Die Kinder, auch sein Vater, haben nur rudimentäre Erinnerungen an die Orte, aus denen die Familie nach Österreich eingewandert ist. Nach dem Tod seines Vaters entschließt sich Florian Grünmandl, aktiv zu werden, damit das Wissen über die Familie nicht völlig verloren geht. Er beginnt, in mühsamer Recherche die Geburtsregister der ehemaligen Wohnorte Uhersky Brod, in der heutigen Tschechischen Republik, und Gbely, in der Slowakei, die er online findet, zu durchforsten. Er konsultiert das Archiv der Nationalbibliothek, liest Heiratsanzeigen, Zeitungsartikel und Sterbeanzeigen. In einer eher unbedeutenden Bezirkszeitung des Ortes Gbely findet er dann den Namen Chaim Budin mit der Anmerkung „ehemals Grünmandl“. Im Nachlass seines Vaters findet er schließlich auch noch den Namen Vladimir Budin, welcher der Vater von Chaim Budin ist. Die Spuren führen nach Israel und Florian Grünmandl findet Chaim. Wie es der Zufall will, recherchiert auch Chaim zur selben Zeit seine Familiengeschichte.

Die beiden treffen einander schließlich in Wien und begeben sich auf eine Reise, einen Roadtrip sozusagen, nach Gbely und Uhersky Brod. Auf dem jüdischen Friedhof in Uhersky Brod findet Florian Grünmandl die Grabsteine seines Urgroßvaters, seiner Urgroßmutter und eines Urgroßonkels. Als Florian Grünmandl mir das erzählt, merke ich, wie ihm dies nahegeht. Er macht eine lange Pause und schließt die Augen. Ohne anmaßend sein zu wollen: Auch mich berührt dieser Moment.

Die Geschichte von Chaim und den Budins

Ja, also, das ganze wahnsinnige Versteckspielen, wenn man zwei Kinder hat, ist das einfach eine Horrorvorstellung. […] Man musste permanent irgendwelche Unterkünfte suchen und man musste sich auch permanent bewegen ab einer gewissen Zeit in dieser schrecklichen Verfolgung. […] Und die ganzen Papiere zu beschaffen und so, also das war eben das Problem der Eltern, und das Problem der Kinder war halt irgendwie, sich so zu verhalten, dass man eben nicht auffällt.

Die Familie Grünmandl (später Budin) hatte zwei Kinder – die Tochter Gerti und den Sohn Chaim. Als die Enteignungen begannen, ging es auch mit dem „Versteckspielen“ los. Für Florian Grünmandl ist das eine Horrorvorstellung – permanent verfolgt zu werden und sich permanent mit zwei Kindern bewegen zu müssen.

Chaim war sieben Jahre alt, nahm also die Ereignisse, wie so viele ZeitzeugInnen, die heute noch aktiv sind, aus der Perspektive eines Kindes wahr. Florian Grünmandl findet das spannend, weil Kinder andere Prioritäten haben. Eine der ersten Geschichten, die Chaim erzählt, ist die Geschichte der Deportation gemeinsam mit seinem Vater, seiner Schwerster und seiner Mutter, bei der er wusste, dass er, wenn er „brav sei“, immer wieder Schokolade bekommen würde. Wenn wir die Perspektive der Mutter erahnen wollen, dann müssen wir natürlich schlussfolgern, dass sie versucht hat das Kind zu beruhigen, um möglichst wenig aufzufallen. Chaim und seine Familie sollen, nachdem sie in einem Sammellager festgehalten wurden, in einem Deportationszug in das Vernichtungslager Auschwitz gebracht werden. Vor der Abfahrt wird die Familie aus dem Zug geholt. Chaim vermutet das hier Bestechung eine Rolle spielte, die die Familie vor der Deportation bewahrte.

Dann erzählt Florian Grünmandl mir die „Waldhaus-Geschichte“, wie er sie nennt. Chaim und seine Schwester Gerti, Onkel und Tanten und Cousins und Cousinen entscheiden sich in einem entlegenen Versteck – im sogenannten „Waldhaus“ – unterzutauchen. Nach einigen Tagen beschließt Chaim in seiner kindlichen Naivität wegzuglaufen. Er schafft das auch und geht nach Bratislava zurück, wo er die UnterstützerInnen der Eltern und den Mann, der die Mutter tatsächlich versteckt hält, findet. Dieser Umstand veranlasst die Eltern auch das Kindermädchen Hannah Budin und die Schwester aus dem „Waldhaus“ zu holen. Hannah Budin sucht in der Nähe von Bratislava eine Wohnung für sich, Gerti und Chaim. Sie betreut und versteckt dort die Kinder. Die Eltern bleiben getrennt von ihren Kindern in ihren Verstecken. Chaim streitet sich an einem schicksalshaften Vormittag mit seiner Schwester, weil sie ihm das Verlassen der Wohnung verbietet. Er entwischt und ist den ganzen Tag abwesend. In der Zwischenzeit wird Gerti von der Polizei verhaftet. Als Chaim am Abend zurückkehrt, sieht er, wie seine Schwester von der Polizei abgeführt wird. Aufgrund des Streits grüßt Chaim seine Schwester nicht, ohne zu wissen, dass seine kindliche Sturheit ihm das Leben rettet. Auch Gerti ignoriert ihren Bruder, jedoch weil sie ihn schützen will. Die Eltern holen ihren Sohn nach diesem Ereignis zu sich und die gesamte Familie kehrt nach Gbely zurück. Die Familie ist im Ort durch den Besitz der dortigen Ziegelfabrik bekannt und man hofft auf mehr Sicherheit. Sie bleiben bis zum Ende des Krieges in Gbely versteckt. Chaims Schwester wird nach Ravensbrück deportiert und dort ermordet.

Chaim und seine Eltern wandern nach dem Krieg nach Israel aus und nehmen den Nachnamen des Kindermädchens „Budin“ an. Vom gesamten „Grünmandl-Strang“ der Familie überleben nur noch Vladimir Budin, der später Florian Grünmandls Großvater einen Brief schreiben wird, und dessen Schwester. Vladimir Budins Brief wird maßgeblich zur Aufarbeitung der Familiengeschichte beitragen.

Die Geschichte der Grünmandls

Ich möchte natürlich auch wissen, was unmittelbar mit der Familie Grünmandl in Tirol passiert ist. Florian Grünmandls Großvater Alfred war nach NS-Gesetzen mit einer „Ariern“ verheiratet und das machte seinen Vater Otto, seine Tanten Betty und Herta und seinen Onkel Ludwig zu sogenannten „Halbjuden“. Ludwig übernimmt während des Krieges die Lebensmittelversorgung der Familie, da er aufgrund der NS-Kategorisierung „Halbjude“ nicht zum Militär eingezogen werden kann. Er arbeitet in einem Gasthaus in Innsbruck und hat Zugang zu Lebensmitteln, mit der er die Familie unterstützt.

Die Tante Betty scheint Florian Grünmandl am lebhaftesten in Erinnerung zu sein. Über sie sprechen wir sehr ausführlich. Vielleicht, weil ihre Geschichte eine Geschichte des Überlebens und Neuanfangs ist, da sie 1938 als einzige nach London emigrieren kann und den Krieg dort überlebt. Vor 1939 gibt es dann auch Versuche die Familie nach England zu bringen, wie Florian Grünmandl aus dem Briefverkehr mit der Tante rekonstruiert hat. Das Ausmaß dieses detaillierten Briefverkehrs zwischen seiner Tante Betty und seinem Großvater ist ihm anfänglich gar nicht bewusst. Nach und nach kann er aber nachvollziehen was die Probleme und Sorgen seiner Angehörigen waren und das diese Briefe wichtige Zeitzeugnisse darstellen.

Betty spricht, bevor sie nach England geht, nur rudimentär Englisch. Also organisiert man für sie in eine private Englischlehrerin, um sie möglichst gut auf ihre Emigration vorzubereiten. In England soll sie mit einem sogenannten „Household Permit“ auf die Kinder einer Familie aufpassen. Sie lernt also als junges Mädchen kochen und nähen, erhält ein Visum und wird mit nur ein paar Kleidungsstücken völlig allein in einen Zug nach London gesetzt. In der Emigration lernt sie den jüdischen Wiener Flüchtling Felix Frommer kennen. Männliche jüdische Flüchtlinge wurden im weiteren Kriegsverlauf verdächtigt Spione der NationalsozialistInnen zu sein. Frommer wird aus diesem Grund mit einem Gefangenenschiff nach Australien gebracht und dort in einem speziell für diese Flüchtlinge eingerichteten Arbeitslager interniert. Während des Krieges führen die beiden eine Fernbeziehung über Briefe, die Felix Frommer aus dem Arbeitslager schreibt, auch der Heiratsantrag erfolgt über einen dieser Briefe. Diese Geschichte macht mich emotional: Der Krieg dauert in etwa sieben Jahre. Da lernen sich zwei junge Menschen unter widrigsten Umständen kennen, verlieben sich ineinander, schreiben sich lange Zeit nur Briefe, und das reicht, um ein Leben miteinander zu verbringen. Ich denke oft an diese Geschichte, denn sie zeigt, dass es Hoffnung in einer unmöglichen Zeit gab, und ich finde sie einfach unglaublich romantisch. Florian Grünmandl sieht es eher pragmatisch:

Wen hätte sie denn da (Anm: Österreich) heiraten und eine Familie gründen sollen, wenn man nicht weiß, was der während des Krieges gemacht hat.

Er sagt auch:

Also es emigrieren ja nicht nur Juden, sondern auch Nationalsozialisten um die ganze Welt. Meine Tante wollte beim Auswandern um keinen Preis mit einem italienischen Schiff fahren, weil die voll waren (Anm: voll mit NationalsozialistInnen). Was macht sie: sie reist mit einem Flugboot, weil die englisch waren. Das meinte ich eben und auch am Anfang vom Gespräch, dass es Schicksale gibt, Menschen, die das Deutsch verweigern, das ist so nachvollziehbar. So wie im Jugoslawienkrieg wahrscheinlich nachvollziehbar ist: Ich will in meiner Ferienunterkunft keine Serben haben.

Betty Grünmandl kommt später in regelmäßigen Abständen nach Tirol zurück. Florian beschreibt das als Sehnsucht nach dem Zuhause Tirol, die aber auch mit einer gleichzeitigen Entfremdung in der Familie gepaart war. Er beschreibt es so:

Es war nie ganz klar, warum das so komisch ist? Warum sind alle genervt, wenn die da ist und sind froh, wenn sie weg ist?

Die Entfremdung, und dass die eigene Tochter nicht mehr erreichbar ist, ist besonders für die Großeltern Alfred und Christine eine bittere Entwicklung.

Den Großvater Alfred beschreibt Grünmandl als säkulären Juden. Er sagt:

Man darf sich nicht vorstellen, dass die alle orthodox waren.

Der Großvater kommt noch gegen Ende des Krieges, als über 60jähriger Mann, in das Zwangsarbeiterlager Reichenau bei Innsbruck. Der Gauleiter Franz Hofer in Tirol beschließt Adolf Hitler ein „judenfreies“ Tirol zu schenken, daher kommt es zu Verhaftungen von Menschen, die in sogenannten „geschützten Mischehen“ leben. Unter bestimmten Umständen durften Juden und Jüdinnen, die mit "ArierInnen" verheiratet waren an ihren Wohnorten bleiben. Sie lebten jedoch in ständiger Ungewissheit. Die eigenmächtige „Initiative“ des Gauleiters wird in Berlin nicht genehmigt, die Verhaftungen müssen rückabgewickelt werden und der Großvater kommt wieder frei. Fortan lebt Alfred Grünmandl als U-Boot im Haus der Familie. Sein Gesundheitszustand ist so schlecht, dass der in der Stadt ansässige Allgemeinarzt regelmäßig unbemerkt ins Haus kommen muss, um ihn zu versorgen. Juden und Jüdinnen hatten keinen Zugang zu medizinischer Versorgung in Spitälern. Der Großvater erholt sich nie wieder von den Strapazen der Zwangsarbeit.

Enteignung, Kampf um Entschädigung und kollektives Verleugnen

Ich frage Florian Grünmandl nach seiner Einschätzung der Auseinandersetzung Österreichs mit seiner Rolle als TäterInnenland. Er entgegnet mir:

Ich wollte jetzt noch sagen, Waldheim, weil ich den vorher erwähnt habe. Da war ich ein Jugendlicher, aber man darf nicht vergessen, ich bin zwar in einem befreiten Österreich aufgewachsen, aber auch wenn ich 65 geboren bin, bin ich trotzdem in meinem Aufwachsen immer wieder unter Anführungsstrichen mit „alten Nazis“ konfrontiert gewesen.

In der Schule wird kaum über die Zeitgeschichte gesprochen. In Grünmandls Fall ist es ausschließlich die Deutschlehrerin, die den Holocaust zur Sprache bringt. Öffentlich kommt es langsam zu einem Paradigmenwechsel, auch durch Filme und Dokumentationen wie Claude Lanzmanns „Shoah“. Diese Veränderung kommt aber nicht in allen gesellschaftlichen Sphären an. Erst in den frühen 90er Jahren wird das kollektive Wegschauen und „Unter-den-Tisch-Kehren“ langsam beendet.

Grünmandl spricht in diesem Zusammenhang auch das Thema Entschädigungen an. Sein Vater wurde zu Kriegsende mit einem sogenannten „Halbjudentransport“ nach Deutschland verschleppt, um dort Fabriksgelände von Bombenschäden zu befreien. Er verfasst für seinen Vater einen Entschädigungsantrag, der in Deutschland eingereicht wird. Die Antwort erreicht Florian Grünmandl erst, als sein Vater schon verstorben ist. Der Antrag wurde abgelehnt, da der Ort, an dem Otto Grünmandl Zwangsarbeit leisten musste, kein anerkannter Zwangsarbeitsstandort war. Dazu sagt sein Sohn nur:

Also da gibt’s natürlich auch Enttäuschungen, also man müsste da ganz beharrlich weiterkämpfen, wer tut das mit 80 plus? Und ich hab’s auch nicht gemacht, weil mein Vater ja nicht mehr gelebt hat.

Auch das Textilgeschäft in Hall wird enteignet. Der Unternehmenswert wird absichtlich niedrig geschätzt, um dem „Ariseur“ zu ermöglichen die Summe zu zahlen. Die Summe befindet sich auf einem Sperrkonto des Staates, um nach und nach die Kriegsindustrie zu finanzieren. Auch das Vermögen auf den Bankkonten des Unternehmens wird auf diesem Sperrkonto hinterlegt. Der begünstigte „Ariseur“ wird nach der Enteignung wochenlang von Betty Grünmandl persönlich in das Textilunternehmen eingeschult. Mir vorzustellen den "Nazi-Dieb" in das familieneigene Unternehmen einzuführen, das einem vorher unrechtmäßig weggenommen wurde, hinterlässt mich sprachlos. Der "Ariseur" hat keine Erfahrung mit dem Textilhandel und das Geschäft geht während des Krieges, wie die meisten anderen enteigneten Unternehmen, pleite. Der Begünstigte „Ariseur“ fällt im Krieg und das Geschäft wird an seine Frau übergeben. 

Zumindest zu Anfang der Besatzungszeit versuchten die französischen Alliierten streng gegen das NS-Unrechtsverhalten vorzugehen. Die Grünmandls gehen noch während der Besatzung vor Gericht und durchlaufen einen sehr unangenehmen Prozess, bekommen das Geschäft aber zurück. Florian Grünmandl hat auch hier die gesamten Prozessakten recherchiert. Anfängliche Initiativen der Wiedergutmachung und Entschädigungsbemühungen werden später vom österreichischen Staat leider bis in die 1990er Jahre nicht mehr so vehement verfolgt. Hier möchte ich ein kleines interessantes Nebendetail erwähnen: Die Frau des ehemaligen Begünstigten Nazis, heiratet nach dessen Tod einen französischen Offizier und geht mit ihm nach Frankreich, um dort ein unbescholtenes Leben zu führen.

Erinnerungskulturen

Spät in unserem Interview stelle ich Florian Grünmandl die zentrale Frage meines Interviews: „Wozu braucht man denn das Wissen, woher man kommt? Wie würden Sie denn diese Frage beantworten?“

Na ja, im Falle jetzt von einem jüdischen Hintergrund, in dem komplett alles vernichtet wird, von den Fotos über die Briefe, du kannst nichts mitnehmen. Dann strandest du irgendwo, baust dir ein neues Leben auf und du weißt nichts, dann ist es unfassbar wichtig herauszufinden: Gibt’s da noch jemanden? Oder: Was ist mit dem Haus passiert oder mit meiner Wohnung? Und nur jemand, der nicht so einen Hintergrund hat, kann sich die Frage leisten: Ja, wozu? Was bringt einem das? Und da muss ich sagen, wenn man den Hintergrund hat, sehr viel? Wenn ich jetzt den Hintergrund nicht habe, weil ich weiß, meine Eltern sind in Graz geboren, ich bin in Innsbruck aufgewachsen, und kein Trauma hinter mir habe, dann brauch ich es nicht.

Dann sprechen wir über die Relevanz einer aktiven Erinnerungskultur in Österreich. Grünmandl findet, die „Steine der Erinnerung“ seien eine „super Idee“, einer davon befindet sich gegenüber seiner Wohnung. Wenn man sie liest, stellt man sich Fragen, und das findet er gut. Die Shoah-Namensmauern wirken für ihn wie ein „Telefonbuch des Grauens“. Obwohl Grünmandl sie ästhetisch schön und die Form der Erinnerung angemessen findet, meint er:

Aber wenn ich es in der Stadt nachvollziehen kann, wo wer war, dann finde ich das nochmal einen Tick besser, weil die haben alle einen Beruf gehabt, ein Leben, eine Wohnung, teilweise in sehr schönen Häusern, und landen dann irgendwo in Polen, in Russland, Estland, um dort ermordet zu werden.

Ich stimme ihm zu, denn die Steine machen auch für mich sichtbar, dass es eine jüdische Gemeinde gab, jüdische Menschen, die Teil einer diversen Gesellschaft waren.

Dann bin ich neugierig und bitte ihn zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen Stellung zu nehmen:

Na ja, ich glaub, das ist, das war immer schon so. Es gab halt Menschen, die sich stärker dafür interessiert und auseinandergesetzt haben, und es gab halt Menschen, die sich nicht interessiert haben und aus dem Unwissen heraus … wie soll man sagen … falsche Rückschlüsse ziehen. […] Natürlich, weil sie zu wenig wissen, und weil Halbwissen in Verbindung mit einer Emotion immer sehr schlecht ist. […] wenn ich so eine Gefühlsargumentation plötzlich präsentiert bekomme, also da sträubt sich bei mir alles“.

Mich interessiert also, wie er sich verhält, wenn sich bei ihm alles sträubt.

Es geht der Rollladen runter. Ich muss weder mir noch anderen die Welt erklären. Außer ich habe das Gefühl, man kann angeregt über was reden. Wie siehst du das, was glaubst du? Und so. Da gibt’s halt ein Umfeld dazu, aber jetzt, grad bei Corona, habe ich gemerkt, dass es unfassbar schwierig wird. Und das ist ein Phänomen der Zeit, dass über Handynetz-Geschichten einfach die wildesten Schlagzeilen herumfliegen und jeder gleich das Leben bedroht sieht. Es war ja eine Bedrohung, aber nicht so, dass man so extreme Positionen bezieht.

Ich frage ihn am Ende noch, ob er eine Verantwortung sieht, an Schulen zu kommen und das Geschehene weiterzuerzählen, nachdem die letzten ZeitzeugInnen bald nicht mehr da sein werden. Seine Antwort erfüllt mich mit Freude:

Ja, wenn es möglich ist, dann tue ich das gerne. Ich meine, es ist natürlich schon auch dadurch da, dass die Universität Innsbruck den Nachlass hat, dass junge Menschen forschen können, wenn sie sich mit der Zeit auseinandersetzen wollen. Es ist gerettet, was die Generation vor mir erlebt und angesammelt hat, geht nicht verloren. Also, das ist so meine Art Ansatz dann gewesen. […] wie soll ich sagen, mir kommt halt vor, wenn man sich die Welt anschaut, mit Flüchtlingsschicksalen, Migrationsschicksalen, Verfolgungsschicksalen … es verschwindet einfach nicht. Es ist einfach da. Ich meine, ich kann‘s jetzt nicht … es gibt Elemente drin, die vergleichbar sind mit den aktuellen Geschehnissen, die immer noch passieren, und es gibt Elemente drin, die ganz spezifisch für den Nationalsozialismus waren. Also, es war eine ganz spezielle Art der Diktatur und Verfolgung […] man kann‘s nicht so vergleichen, aber was das auslöst bei Familien und privaten Interaktionen, das ist vergleichbar, ja.

Bei seinen Ausstellungen zu seiner Familiengeschichte bekommt Grünmandl großteils positives Feedback. Nur einmal gab es jemanden, der gefragt hat: „Wozu muss man denn schon wieder oder noch immer darüber reden?“ Ich selbst frage mich, wie oft ich diesen Satz schon gehört habe, und komme zu dem Schluss: zu oft!

Mit dem Hinweis „Jetzt müssen Sie aber eine Dramaturgie finden, und das ist ganz schön viel Arbeit“, mit dem ich meinen Artikel auch begonnen habe, endet unser Interview.

Kommentar

Das Interview initiiert bei mir einen Denkprozess. Ich erinnere mich an eine Aussage, die ich vor langer Zeit einmal gehört habe: „Zeitzeugen sind der Alptraum eines jeden Historikers“. Das mag schon sein, wenn man sich, überspitzt gesagt, in einer wissenschaftlichen Blase bewegt und die Welt aus einem Elfenbeinturm betrachten kann, der rein gar nichts mit dem Alltag junger Menschen zu tun hat.

Ich sage: ZeitzeugInnen - und in Zukunft auch ihre Nachkommen - sind wertvolle Verbündete für uns Geschichtslehrkräfte. ZeitzeugInnen erzählen unseren SchülerInnen von einer Zeit, zu der sie so gut wie keine Verbindung mehr haben. 80 Jahre sind eine unfassbar lange Zeit für einen Teenager. ZeitzeugInnen und ihre Nachkommen personifizieren schwer zugängliche Ereignisse für unsere SchülerInnen. Sie sind die Gesichter, Geschichten und Schicksale, die hinter den Daten, Zahlen und Fakten stehen, ohne diese in Abrede zu stellen. Sie erzählen uns von grauenhaften Ereignissen, die im Alltag passiert sind, von FreundInnen, die plötzlich nicht mehr mit ihnen sprachen, von der Schule und der Bildung, die ihnen verwehrt wurden, von den NachbarInnen, die in ihre Wohnungen kamen und sich ihr Eigentum aneigneten - und von der Flucht und Vertreibung aus ihrer Heimat. Viele junge Menschen, die heute in meinen Klassen sitzen, gehören Familien an, die ebenfalls eine Fluchtgeschichte haben. In vielen Fällen haben diese Jugendlichen selbst eine ganz persönliche und traumatisierende Fluchterfahrung erlebt. Hier können wir in Gesprächen mit Nachkommen anknüpfen. Vielleicht bekommen die Erzählungen der Nachkommen so eine besondere emotionale Bedeutung für die Jugendlichen und sie entwickeln ein Bewusstsein dafür, warum wir uns aktiv an eine Zeit erinnern sollten, in der Demokratie, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit keine Bedeutung hatten. Im besten Fall beginnen sie zu verstehen, was wir daraus lernen können. Menschen, die ihre persönlichen Schicksale mit uns teilen, lösen in uns Emotionen aus, die Daten, Zahlen und andere Fakten niemals evozieren können. Sie brechen die zeitliche und historische Distanz auf und bringen uns manchmal auch in schmerzhafte und unangenehme Situationen, die uns dazu zwingen, unsere eigenen Vorurteile und Standpunkte zu hinterfragen. Und das ist gut so!

Um gesellschaftliche Herausforderungen wie Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu verstehen und zu dekonstruieren, müssen wir immer zuerst bei uns selbst beginnen. Stand ich auch schon einmal daneben, als diskriminierende Äußerungen gemacht wurden? Habe ich selbst schon andere diskriminiert? Genau das ist es doch, was wir meinen, wenn wir immer wieder den viel zitierten Spruch bedienen: „Wir müssen aus der Geschichte lernen.“

In Bezug auf das Konzept der ZeitzeugInnenschaft vollziehen wir derzeit einen Paradigmenwechsel: Die persönlichen Erzählungen einzelner Betroffener und Verfolgter des NS-Regimes werden in Zukunft „nur“ mehr durch Aufzeichnungen und Nacherzählungen zur Verfügung stehen. Nachkommen von ZeitzeugInnen aus der zweiten und dritten Generation können aber den „Generation-Gap“, der durch das langsame Verschwinden der ZeitzeugInnen entstanden ist, schließen. Sie können in Zukunft eine aktive Rolle in der Holocaust-Education und in der nachhaltigen Demokratiebildung übernehmen.

Wenn 21% der 18- bis 29-Jährigen in Österreich glauben, dass die Zahl der während des Holocaust getöteten Juden und Jüdinnen übertrieben sei und 14% angeben[1], noch nie etwas vom Holocaust gehört haben, dann brauchen wir diese Form der Demokratiebildung mehr denn je.

Wenn weltberühmte Menschen, die unseren Jugendlichen Vorbilder sind oder sein sollten, nur wenige Tage vor dem Internationalen Holocaust-Gedenktag Nazi-Gesten vor Millionen von ZuschauerInnen vollziehen und öffentlich in vergiftender und populistischer Rhetorik bekunden, dass „Kinder nicht für das verantwortlich gemacht werden sollen, was im Holocaust passiert ist“, dann müssen wir als Lehrpersonen einen Weg finden, sachlich und bestimmt gegen die Normalisierung und Verharmlosung rechter Gesinnung und Holocaustleugnung vorzugehen.

Doch Erinnerung allein reicht nicht aus – sie muss in einen konkreten historischen Kontext eingebettet werden. Indem wir die Biografien der Verfolgten und Ermordeten des NS-Regimes mit Daten, Fakten und verlässlichen Quellen verknüpfen, schaffen wir ein fundiertes Verständnis der Vergangenheit. Nur so können junge Menschen die tiefen Wurzeln gesellschaftlicher Probleme erkennen und sich gegen das Konstruieren von FeindInnenbildern stellen. 

Wenn sich lediglich 35% der Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren in Österreich vom Parlament gut vertreten fühlen und nur 23% denken, dass ihre Interessen auch gehört werden[2], dann müssen wir dafür sorgen, dass diese jungen Menschen wieder Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen gewinnen – ohne Fatalismus, mit einer Bildungspraxis, die die Menschenwürde und die Rechtsstaatlichkeit in den Mittelpunkt stellt, die die kulturellen Wurzeln unserer SchülerInnen nicht bevormundet, zugleich aber klare Grenzen zieht, damit rote Linien zum Extremismus nicht überschritten werden. Gedenken muss eine Zukunftsintention für unsere Jugendlichen bekommen, indem sie durch das Erinnern lernen mit Zivilcourage, Empathie und Selbstermächtigung gegen demokratiegefährdende Tendenzen aufzutreten.

Ich bedanke mich herzlich bei Florian Grünmandl für das ausführliche Interview und seine Bereitschaft, auch weiterhin mit SchülerInnen zu sprechen. Die Lernerfahrungen, die er damit für viele junge Menschen ermöglicht, sind heute in der historisch-politischen Bildung mehr denn je unverzichtbar.

Weiterführende Links, die von Florian Grünmandl zur Verfügung gestellt wurden:

Informationen zu Otto Grünmandl:

https://orawww.uibk.ac.at/apex/uprod/f?p=TLL:2:0::::P2_ID:219

Podcast des australischen NBC Radio National über die „Dunera Boys“ – männliche jüdische Geflüchtete, die zuerst nach Großbritannien flüchteten und dann von den Briten nach Australien deportiert wurden, weil sie unter Verdacht standen „Nazi-Spitzel“ zu sein. Sie wurden in Australien in Internierungslagern in Hay, Orange and Tatura eingesperrt.

https://www.abc.net.au/listen/programs/sundayextra/prisoners-in-a-foreign-land-/104662762