Neue Handreichung für Lehrpersonen: “Countering Holocaust denial and distortion through education. A guide for teachers”
Kostenloser Download der Handreichung
Was hat die UNESCO dazu bewegt, diese Handreichung für Lehrpersonen herauszugeben? Was war der konkrete Anlass und auf welche Bedürfnisse seitens der Pädagoginnen und Pädagogen wurde reagiert?
80 Prozent der deutschsprachigen auf den Holocaust bezogenen Inhalte auf Telegram leugnen oder verfälschen die Geschichte; auf TikTok sind es immerhin noch 17 Prozent. Das belegt die UNESCO Studie über die Leugnung, Verfälschung und Verharmlosung des Holocaust in den sogenannten „Sozialen Medien“ („History under attack: Holocaust denial and distortion on social media“) aus dem Jahr 2022. Es wird überaus deutlich, welch bedrohliches Ausmaß Lügen und Hasspropaganda angenommen haben – und das ist seither bedingt durch die krisenhaften Entwicklungen wohl noch schlimmer geworden. Stefania Giannini, die stellvertretende UNESCO Generaldirektorin für Bildung, und der ehem. österreichische Bildungsministerminister Martin Polaschek schreiben in ihrem Vorwort von bedrohlichen Narrativen, die nicht nur das Andenken der Opfer beleidigen, sondern die Grundlagen von Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde untergraben. Darauf möchte die UNESCO mit dieser Handreichung reagieren.
Im Unterschied zu „Holocaust Denial“ lässt sich der Begriff „Holocaust Distortion“ nur schwer übersetzen. Wie werden die Begriffe definiert und wie unterscheidet sich Holocaust Distortion von Holocaust Denial?
In Österreich und auch Deutschland wird wie in den meisten europäischen Staaten die Leugnung des Holocaust strafrechtlich verfolgt und ist heute dementsprechend selten öffentlich zu vernehmen. Die Vereinten Nationen beziehen in ihre Definition der Leugnung des Holocaust auch Leugnung von Gaskammern oder anderen Mordmethoden mit ein (UN Resolution Jänner 2022). Viel herausfordernder für Lehrpersonen ist jedoch die Verfälschung und Verharmlosung des Völkermords an den Jüdinnen und Juden (Holocaust Distortion). Hier führen die Vereinten Nationen u.a. das Bestreiten der tatsächlichen Opferzahlen an, oder auch das Infragestellen von historischen Quellen und Zeugnissen bzw. die Leugnung der Verantwortung und die antisemitisch motivierte Schuldzuweisung an die jüdischen Opfer. Die Verfälschung und Verharmlosung der Geschichte des Völkermords an den Jüdinnen und Juden ist nicht immer leicht zu erkennen und ihr ist nicht so einfach zu begegnen wie der direkten Leugnung. Zudem gibt es mächtige Akteure wie beispielsweise Staaten oder politische Parteien, welche eine bestimmte Form der Erinnerung an den Holocaust durchsetzen wollen, die sie aus der Verantwortung nimmt.
Auch im öffentlichen Diskurs oder im kulturellen Leben kommt es zur Verzerrung der historischen Fakten. Die Nazi-Zeit und insbesondere die vom nationalsozialistischen Deutschen Reich und seinen Verbündeten begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind Teil des gemeinsamen Gedächtnisses der Menschheit geworden. Auf sie wird ständig Bezug genommen und sie werden in allen möglichen Kontexten genutzt, etwa um gegenwärtige Entwicklungen einzuschätzen bzw. weltanschauliche Positionen zu kennzeichnen. Sie garantieren hohe Aufmerksamkeit, große Reichweiten und sind damit auch ein wirtschaftlicher Faktor in der Aufmerksamkeitsindustrie.
Warum stellen Social Media Kanäle eine besondere Gefahr in der Verbreitung von Holocaust Denial und Distortion wie auch Falschinformationen dar?
Das Internet und die sogenannten Sozialen Medien haben einen entscheidenden Einfluss auf unsere Wahrnehmung von der Welt und damit auch von der Geschichte. Im Gegensatz zu Geschichtsdarstellungen in Museen, wissenschaftlichen Werken oder in den Schulbüchern werden dort Inhalte ohne eine inhaltliche Prüfung verbreitet. In diesen vielgestaltigen, reichhaltigen und unübersichtlichen Angeboten liegen Seriöses und Hilfreiches neben Angeboten, welche die Geschichte des Holocaust stark vereinfachen und verzerren, oft auch neben Lüge und Hass. Die sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) ist eine weitere, wachsende Herausforderung, sind doch die von ihr generierten digitalen Fälschungen kaum mehr von auf historischen Fakten basierenden Darstellungen zu unterscheiden. KI kann zur Verbreitung von Lügen-Propaganda und Hass wie etwa der Nazi-Ideologie dienen. Die Algorithmen, welche Soziale Medien steuern, bleiben für die NutzerInnen uneinsehbar und unbeeinflussbar. Sie spülen auf vielen Plattformen kontroverse und emotionalisierende Inhalte in den Vordergrund, damit oft auch Lügen und Hass.
Die Handreichung hat zum Ziel Lehrpersonen dabei zu unterstützen, auf Holocaust Denial, Holocaust Distortion aber auch Hass im Netz zu reagieren. Wenn du nur zwei Punkte nennen könntest: Was ist aus deiner Sicht besonders wichtig beziehungsweise besonders hilfreich?
Wesentlich scheint mir, dass Lehrpersonen Verfälschung und Verharmlosung des Völkermords an den Jüdinnen und Juden erkennen und auch verstehen, welche AkteurInnen mit welchen Absichten derart Einfluss zu nehmen versuchen. Diese Handreichung bietet dazu einen guten, prägnant gehaltenen Überblick.
Zwei Beispiele aus dem Bereich des Internets wären die Ausführungen zu den Online-Manipulationsstrategien, die hinter der Leugnung und Verzerrung des Holocaust stehen, oder Anregungen zur Einschätzung der Glaubwürdigkeit einer Quelle im Internet (Posts, Websites…). Aus der Vielzahl der in der Handreichung enthaltenen Anregungen für die Arbeit im Klassenzimmer könnten die Hinweise auf hilfreiche Reaktionsweisen von Lehrpersonen hervorgehoben werden, wenn Äußerungen von SchülerInnen den Holocaust zu leugnen, zu verfälschen oder zu verharmlosen scheinen.
Viele Empfehlungen und Hinweise in der Handreichung kennen wir bereits aus der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus sowie aus der Geschichtsdidaktik. Welche Ansätze würdest du als spezifisch für die Beschäftigung mit Holocaust Denial und Holocaust Distortion sehen?
Die Handreichung ist dreigeteilt: Im ersten Kapitel wird ein Überblick über die Leugnung bzw. Verfälschung und Verzerrung der Geschichte des Holocaust gegeben und die geläufigen Muster werden analysiert. Diese Informationen helfen Lehrpersonen, Leugnung, Verfälschung und Verharmlosung zu erkennen und zu verstehen.
Im zweiten Kapitel stehen pädagogische und didaktische Überlegungen im Zentrum: Wie können Lehrpersonen reagieren, wenn sie damit konfrontiert werden? Und was können Lehrpersonen tun, um die Lernenden auf diese unterschiedlich motivierten Manipulationsversuche vorzubereiten, denen sie vor allem in der Welt des Internets und der sogenannten Sozialen Medien begegnen werden? Hier wird insbesondere auf Methoden aus dem Bereich der Bildung zur digitalen Mündigkeit bzw. des Erwerbs von digitalen Kompetenzen Bezug genommen. Darüber hinaus werden allgemeine pädagogische Fragen wie Klassenmanagement oder didaktische Fragen des methodisch sauberen Vergleichens von historischen Ereignissen behandelt.
Das dritte Kapitel konzentriert sich auf die wachsenden Herausforderungen durch absichtlich falsche und irreführende Informationen im digitalen Zeitalter und diskutiert, welche Herangehensweisen für Lernende und Lehrende erfolgsversprechend sind.
Die Handreichung integriert Ansätze aus der Geschichtswissenschaft, der Geschichtsdidaktik bzw. der Didaktik der politischen Bildung mit der digitalen Bildung – und das alles mit dem Fokus auf Verfälschung und Verharmlosung der Geschichte des Holocaust. An ihr arbeiteten ExpertInnen aus diversen Feldern zusammen: Geschichtswissenschaft, Geschichtsdidaktik, digitale Bildung, Kommunikations- und Medienwissenschaften, Sozialpsychologie sowie Rechtswissenschaften.
Die Handreichung wurde in Zusammenarbeit mit einem internationalen ExpertInnen-Team erstellt. Gab es für dich persönlich besonders überraschende und neue Erkenntnisse und länderbezogene Spezifika?
Die Texte durchliefen einen intensiven Rückmeldezyklus, in den Expertise aus weiteren Feldern und Weltregionen einflossen. Zu der europäischen Perspektive der AutorInnen kamen Einsichten aus den USA und Kanada, aus Indien und Afrika, welche den Blick weiteten und die Relevanz der Handreichung deutlich machten.
Wenn auch das Internet tatsächlich einen weltumspannenden Kommunikationsraum schafft, so sind es doch jeweils regionale AkteurInnen, die in jeweils spezifischen Kontexten und mit jeweils spezifischen Wirkungsabsichten Lügen und Hass verbreiten. Besonders bedrückend finde ich die Lage von Lehrpersonen in Staaten, wo von Staats wegen die Geschichte des Holocaust verleugnet, verfälscht und verzerrt wird. Wie können sie reagieren? Welche Handlungsspielräume haben sie, ohne sich oder ihre Lernenden zu gefährden?
Ein weiteres wichtiges Feld tut sich um den Begriff der Meinungsfreiheit auf. Gerade diejenigen, die Lügen und Hass im Netz verbreiten, berufen sich auf die Meinungsfreiheit – auch hier versuchen wir Licht ins Dickicht der Argumente zu bringen: Wie im wirklichen Leben gibt es auch im virtuellen Raum rechtlich begründete Einschränkungen des Sagbaren. Im wirklichen Leben leuchtet das den Meisten ein, im virtuellen Raum jedoch sollen Recht und Anstand nicht mehr gelten.
Für mich wurde im Laufe der Arbeit ganz besonders deutlich, wie wesentlich für unser Zusammenleben und die Weiterentwicklung unserer Kenntnisse von der Welt die Suche nach Wahrheit ist. Es ist nicht egal, wenn Lügen den öffentlichen Raum fluten. Nicht jede Behauptung wiegt gleich, denn es gibt Regeln, wie Behauptungen argumentativ gestützt und überprüfbar sein müssen. Unsere Geschichtsbücher sind eben nicht nur Narrationen in einem großen weißen Rauschen von unzähligen Narrationen. Sondern es sind Texte, die auf eine überprüfbare Art und Weise entstanden und geschrieben sind, die durch ExpertInnen auf ihre Plausibilität und Nützlichkeit hin überprüft wurden und die von kompetenten Lehrpersonen in anspruchsvollen Lernsettings in den Klassen verwendet werden. Dasselbe gilt für qualitätsgesicherte Lern- und Informationsangebote im Internet. Es bleibt in meinen Augen daher wichtig, an der Qualität unserer Schulbücher und auch von kuratierten Lern- und Informationsangeboten im Internet weiterzuarbeiten und nicht zu glauben, das ohnehin online verfügbare Wissen mache diese Anstrengungen obsolet.
Englische Fassung des Interviews
Kostenloser Download der Handreichung
Holocaust distortion training program der IHRA in Kooperation mit der UNESCO
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