Erscheinungsformen des Antisemitismus
Frühe Erscheinungsformen, die ihre Tradition im Christentum haben, werden als Antijudaismus bezeichnet. Seit der Entstehung des Christentums wurden Jüdinnen und Juden negative Eigenschaften zugeschrieben. Diese religiös begründeten (und dennoch oft auch wirtschaftlich motivierten) antijüdischen Ressentiments dienten dem neuen, aus dem Judentum entstandenen Christentum zur Abgrenzung von dessen Wurzeln. Bereits im Antijudaismus werden Jüdinnen und Juden als Sündenböcke für Krisen verantwortlich gemacht, dämonisiert, herabgewürdigt und entmenschlicht.
Mit der zunehmenden Säkularisierung und der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft entstand ab dem 19. Jahrhundert mit dem modernen Antisemitismus eine nicht mehr religiös, sondern sozial, politisch, national und völkisch-rassistisch begründete Form der Judenfeindschaft. Jüdinnen und Juden wird hierbei ein Anderssein zugeschrieben – sie werden als homogenes Kollektiv, als kulturell, ethnisch und sozial nicht zu Volk(sgemeinschaft) und Nation gehörende oder als biologistisch begründete andere »Rasse« konstruiert.
Der moderne Antisemitismus äußert sich häufig in Verschwörungserzählungen. Diese bauen auf dem Phantasma von geheimen unsichtbaren Mächten auf, und beinhalten die Zuschreibung von besonderen Eigenschaften, Absichten, konspirativen Plänen und Handlungen. So lassen sich komplexe Sachverhalte und gesellschaftliche Verhältnisse jeglicher Art auf vereinfachende Weise erklären und angeblich Schuldige für aktuelle Problemlagen ausmachen. Verschwörungserzählungen haben eine identitätsstiftende Funktion, die soziale Differenzen überbrückt und ein suggeriertes Wir-Gefühl der Mehrheitsgesellschaft erzeugt. Auch wenn Jüdinnen und Juden nicht explizit erwähnt werden, sind Verschwörungserzählungen in ihrer Funktionsweise strukturell eng mit Antisemitismus verbunden.
Der moderne Antisemitismus steigerte sich im Nationalsozialismus zu einem nationalen Erlösungsantisemitismus mit dem Ziel der völligen Vernichtung der menschlichen und kulturellen Existenz des Judentums. Diese extreme Form des Antisemitismus verband den völkischen Rassismus des modernen Antisemitismus und die religiöse Erlösungsfantasie des christlichen Antijudaismus und endete in der industriellen Massentötung der Shoah. Ein Ende allen Übels und aller Krisen wurde in der Vernichtung, der sogenannten „Endlösung“ gesehen. Daraus folgte der bisher größte und präzedenzlose Völkermord der Geschichte, mit über 6 Millionen Toten und somit an die 40% aller damals auf der Welt lebenden Jüdinnen und Juden.
Seit 1945 werden antisemitische Einstellungen und Bilder häufig über Umwege, Vergleiche oder in Codes kommuniziert. Eine dieser neuen, subtileren Ausdrucksformen ist der sekundäre Antisemitismus (der Antisemitismus nach der Shoah). Er entstand vor allem in Deutschland und Österreich als Versuch der Erinnerungs- und Verantwortungsabwehr für die nationalsozialistischen Verbrechen. Die Erinnerung an den Holocaust wird hierbei als Hindernis gesehen, in die Zukunft zu schauen und eine positive (nationale) Identität zu entwickeln, sie löst unerwünschte Schuld- und Schamgefühle aus. Der sekundäre Antisemitismus zeigt sich beispielsweise in der Verharmlosung, Relativierung oder Leugnung des Holocaust wie in der Forderungen nach einem »Schlussstrich« unter die Geschichte.
Auch eine Täter-Opfer-Umkehr ist Ausdruck davon, unter anderem im Vorwurf, Jüdinnen und Juden würden aus dem Holocaust politisches oder finanzielles Kapital schlagen oder Mitschuld an ihrer Verfolgung tragen. Verantwortlich für Antisemitismus sind immer die Antisemitinnen und Antisemiten.
Eine weitere aktuelle Erscheinungsform ist der israelbezogene Antisemitismus. Dieser verknüpft eine Gegnerschaft zum Staat Israel und antisemitische Ressentiments und Projektionen, wodurch er die Grenze legitimer Kritik überschreitet. Auch hier können sich Aspekte der Täter-Opfer-Umkehr zeigen, zum Beispiel in der Behauptung, Israel würde „mit den Palästinenserinnen und Palästinensern dasselbe machen, was die Nazis früher Jüdinnen und Juden antaten“. Zudem werden Jüdinnen und Juden oft mit dem Staat Israel und dessen Politik gleichgesetzt und antijüdische Ressentiments drücken sich als Feindschaft gegen Israel aus. Dabei können antisemitische Deutungen die Wahrnehmung des Konflikts im Nahen Osten prägen, indem antisemitische Feindbilder auf den Staat Israel als (vermeintlich) jüdisches Kollektiv projiziert werden.
