Was ist Antisemitismus?
In Österreich leben ungefähr 15 Tausend Jüdinnen und Juden. Ihre Lebensrealitäten und Identitäten sind genauso vielfältig wie ihre Bezüge zu jüdischer Religion und zum Glauben. Im antisemitischen Denken kommen Jüdinnen und Juden häufig nicht als reale Personen, sondern als Projektionsflächen vor: Eigene und gesellschaftliche Vorstellungen, Wünsche, Sehnsüchte und Ängste werden auf Jüdinnen und Juden übertragen.
Antisemitismus stellt wie jede gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit eine Form des „Othering“ dar, der Konstruktion von „den Anderen“. Das geschieht über körperliche, soziale und ökonomische Zuschreibungen, die häufig für „natürlich“ und daher unveränderlich angesehen werden. Dazu kommen Verallgemeinerungen auf der Basis von bewusst und unbewusst tradierten Stereotypen. Aufgrund der tatsächlichen oder vermuteten Zugehörigkeit zu einer Gruppe werden Menschen oder Institutionen negative Eigenschaften unterstellt. Antisemitismus ist mehr als ein bloßes Vorurteil, er ist eine Ideologie der Ungleichheit und steht somit in vielfältiger Beziehung zu anderen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Antiziganismus, Sexismus oder Homophobie. Mit dem Rassismus teilt der Antisemitismus die Markierung einer Gruppe als „anders“ und „fremd“ gegenüber der eigenen Gruppe und die damit verbundene Abwertung.
Das spezielle Merkmal des Antisemitismus ist, dass Jüdinnen und Juden eine besondere Macht, besonderer Einfluss und eine gewisse Überlegenheit zugeschrieben werden: Der Antisemitismus ist gleichzeitig Abwertung und Überhöhung. Er bietet ein umfassendes Weltdeutungssystem an, in dem Jüdinnen und Juden etwa als „geheime Strippenzieher“ für wirtschaftliche, politische und soziale Strukturen und insbesondere für gesellschaftliche Krisen verantwortlich gemacht werden.
Antisemitismus und Rassismus
Gemeinsamkeiten: Fremdmachung (Othering) und Abwertung
Spezifika: Überhöhung und Vorwurf der Verschwörung
In den letzten Jahren wurden unterschiedliche Definitionen für Antisemitismus vorgeschlagen und kontrovers diskutiert[1]. Für das österreichische Bildungssystem wurde die 2016 veröffentlichte Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) als Bezugspunkt gewählt. Definitionen geben Orientierung und dienen als Hilfsmittel, sie sollen aber nicht als dogmatisches Disziplinierungsinstrument verwendet werden. Die Arbeitsdefinition soll vielmehr in der Bildungsarbeit als Analyse- und Verständniswerkzeug unterstützen, um ein sorgfältiges Ergründen und Beschreiben eines Sachverhaltes zu ermöglichen. Dabei muss sowohl der Gesamtkontext berücksichtigt wie auch der spezifisch antisemitische Gehalt der Aussage oder Handlung ergründet werden. Die Definition kann nicht die Auseinandersetzung mit emotionalen Prozessen, Motivationen und Intentionen ersetzen – denn nicht jede problematische Aussage ist automatisch antisemitisch. In der pädagogischen Arbeit geht es darum, Lernprozesse zu initiieren, Fehlkonzepte offenzulegen, ein kritisches, historisches Bewusstsein und Empathie zu schaffen.
IHRA Arbeitsdefinition von Antisemitismus
»Antisemitismus (Punkt 1) ist eine bestimmte Wahrnehmung (Punkt 2) von Juden (Punkt 3), die sich als Hass (Punkt 4) gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht jüdische (Punkt 5) Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen (Punkt 6).«[2]
Die folgenden Erläuterungen helfen die sehr allgemein gehaltene Arbeitsdefinition besser zu verstehen und anwenden zu können:
- Antisemitismus entstand als Ideologie im 18. Jahrhundert. Er knüpfte an den Antijudaismus, die christliche Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden, an.
- Das meint Deutung von bzw. die Einstellungen, Sicht- und Verhaltensweisen gegenüber Jüdinnen und Juden: Antisemitismus bezieht sich nicht darauf, wie Jüdinnen und Juden wirklich sind, sondern wie sie von Antisemitinnen und Antisemiten gesehen werden.
- Das tatsächliche oder unterstellte Jüdisch-Sein dient als dominante oder gar ausschließliche Kategorie der Wahrnehmung. Somit können auch vermeintlich neutrale oder positive Aussagen antisemitisch sein, wenn diese Jüdinnen und Juden als „eigentümlich“, „speziell“ oder generell anders („Othering“) darstellen.
- Antisemitismus kann sich in versteckten Andeutungen, diskriminierenden Aussagen, verbalen Beleidigungen bis zu körperlichen Angriffen und ausgrenzender Politik äußern. Das reicht von Schimpfworten über Witze, von der Verwendung von Bildern und Symbolen bis zu ideologischer Hetzrede und Hassparolen - sowohl online als auch offline.
- Antisemitismus kann auch gegen nicht jüdische Menschen geäußert werden, z.B. wenn „Du Jude!“ als Beschimpfung verwendet wird.
- Jüdische Institutionen oder Geschäfte sind wiederkehrend Ziel von antisemitischen Angriffen. Deswegen stehen jüdische Einrichtungen in Österreich unter Polizeischutz.
[1] So wurde aus der Fachwelt auch das Nexus-Dokument oder die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) als alternative Definitionsversuche zu jener der IHRA eingebracht.
