Geschichtslose Gesellschaft

Das weit verbreitete Nichtwissen über die Zeitgeschichte, macht es Rechtspopulisten - so Andreas Koller in den "Salzburger Nachrichten" - beim Wahlkämpfen leicht: "Hitler und Dschingis Khan. Die Debatte um Verbotsgesetz & Gaskammern geht an einem großen Teil der (Jung-)Wähler spurlos vorbei. Strache und Rosenkranz können auf das Nichtwissen breiter Wählerschichten bauen."

Der stellvertretende Chefredakteur der "Salzburger Nachrichten" , Andreas Koller, nimmt zum Bundespräsidentschaftswahlkampf 2010 Stellung und beklagt das mangelnde historische Wissen der Jungwähler und Jungwählerinnen :

Andreas Koller: Geschichtslose Gesellschaft

Hitler und Dschingis Khan. Die Debatte um Verbotsgesetz & Gaskammern geht an einem großen Teil der (Jung-)Wähler spurlos vorbei. Strache und Rosenkranz können auf das Nichtwissen breiter Wählerschichten bauen.
Verbotsgesetz, Gaskammern, Drittes Reich: Die bisherigen Themen des Bundespräsidentschaftswahlkampfs sind in den Tiefen der österreichischen Zeitgeschichte angesiedelt. Dank FPÖ-Kandidatin Barbara Rosenkranz, die lang nachdenken musste, ehe ihr eidesstattlich einfiel, dass der Nationalsozialismus keine ganz so tolle Sache war, ist unser Land derzeit wieder einmal mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert.
Und die Zukunft? Den „Salzburger Nachrichten“ war dieser Tage zu entnehmen, dass bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl acht Jahrgänge an Jungwählern wahlberechtigt sind. Das ist die Summe aus sechs Jahren Präsidentschaft plus Senkung des Wahlalters um zwei Jahre. Es darf füglich davon ausgegangen waren, dass das, was derzeit die Republik erregt – nämlich die Einstellung einer Kandidatin zum Dritten Reich – einen großen Teil dieser Jungwähler überhaupt nicht berührt. Weil nämlich ein großer Teil dieser Jungwähler keine Ahnung hat, was das Dritte Reich eigentlich war; warum wir ein Verbotsgesetz brauchen; und was es mit den Gaskammern auf sich hat. Weil es einem großen Teil der Jungwähler, und wohl auch einem großen Teil der Altwähler, am Geschichtsbewusstsein fehlt.
Angesichts der Prioritätensetzungen des heimischen Bildungssystems ist das kein Wunder. In den Lehrplänen der Oberstufen von Gymnasien und Realgymnasien beispielsweise gibt es – verteilt auf vier Jahre – magere sechs bis sieben Wochenstunden Geschichtsunterricht. Also weniger als zwei pro Jahr. Aber dafür acht Stunden Religionsunterricht. Und zwölf Stunden Mathematikunterricht.
Noch krasser ist der Geschichtsmangel in technischen Schulen. Beispiel HTL, Fachrichtung Elektrotechnik. In den Klassen eins bis drei – also in jener Zeit, in der die jungen Menschen ins Wahlrecht entlassen werden – gibt es genau null Stunden Geschichte und Politische Bildung. In den Klassen vier und fünf jeweils zwei Stunden, macht zusammen vier. Geografie – ein Gegenstand, der für das Verständnis der Welt auch nicht ganz unwesentlich ist – wird in der HTL, Fachrichtung Elektrotechnik, nur in den ersten und zweiten Klassen jeweils zwei Wochenstunden lang unterrichtet. Danach ist Funkstille.
Oder die Berufsschule für Maurer: In drei Berufsschuljahren sitzen die angehenden Handwerker 1260 Schulstunden ab. Davon 80 in Geschichte – macht bei realistischen 120 Unterrichtswochen in drei Jahren nicht einmal eine pro Woche. Zwischendurch erhalten die jungen Maurer das Wahlrecht.
Wie junge Menschen in dieser kärglich bemessenen Zeit – wie es der Lehrplan verlangt – „Werden und Entwicklung der Republik Österreich“ nähergebracht werden soll, erscheint einigermaßen schleierhaft. Eine vertiefte Beschäftigung mit den zeitgeschichtlichen Verstrickungen Österreichs erscheint schlechterdings unmöglich. Junge Menschen, die nicht im Elternhaus mit dem nötigen politischen und historischen Rüstzeug ausgestattet wurden, werden der Debatte um Verbotsgesetz und Gaskammern mangels Wissen völlig verständnislos gegenüberstehen. Wessen Eltern beispielsweise aus Anatolien stammen und daher schon aus Gründen ihrer fernen Herkunft keine Spezialisten in österreichischer Geschichte sind, wird völlig unwissend ins Leben und ins Wahlrecht entlassen. Strache & Rosenkranz können daher auf breite Wählerschichten bauen, denen das Dritte Reich mitsamt seiner Menschenvernichtungsindustrie so fern ist wie das Reich Dschingis Khans.Weites Feld für Rattenfänger Wieder einmal ist der Umstand zu beklagen, dass Geistes- und Gesellschaftswissenschaften in unserer Welt einen viel zu niedrigen Stellenwert haben. Wer auf die Technische Universität geht, um dort zu lernen, wie technische Abläufe funktionieren, darf sich auf eine gute Nachrede seiner Umgebung, auf hohe soziale Reputation und auf einen sicheren Job einstellen. Wer hingegen Geschichte, Psychologie oder Soziologie studiert, um zu lernen, wie gesellschaftliche Abläufe funktionieren, sitzt in überfüllen Hörsälen, muss sich das Ausüben einer brotlosen Kunst vorwerfen lassen und darf sich jahrelang mit schlecht bezahlten Praktika herumschlagen. Derlei tut einer Gesellschaft nicht gut. Um es auf eine polemische Frage zuzuspitzen: Wer hat mehr für die Menschheit geleistet: Die Techniker, die die Atomkraft entdeckten – oder die Gesellschaftswissenschafter und Philosophen, die sich den Kopf darüber zerbrachen, wie diese Atomkraft ethisch richtig einzusetzen sei?
Die in unserer Gesellschaft krass unterbewertete Geschichtswissenschaft vereint das Wissen um sämtliche politischen Irrtümer und Fehlentscheidungen. Eine Gesellschaft, die dieses Wissen ignoriert, läuft Gefahr, die Irrtümer und Fehlentscheidungen ständig wiederholen zu müssen. Sie läuft Gefahr, nicht nur ihr Wissen, sondern auch ihr Gewissen zu verlieren. Sie bietet politischen Rattenfängern ein weites Feld.
Und wie sich nun herausstellt, ist Geschichtliches Wissen auch dafür erforderlich, bei der kommenden Präsidentschaftswahl eine vernünftige Wahlentscheidung treffen zu können. Dieser Aspekt ist leider kein Bestandteil der laufenden Bildungsdebatte.


(Salzburger Nachrichten, Print: 29.03.2010, Seite 3)

http://mein.salzburg.com/blog/koller/2010/03/geschichtslose-gesellschaft.html